Eine Insel
wird gehängt, wie es sich gehört. Der Henker würde vorher in aller Ruhe frühstücken, und vielleicht noch ein Gebet sprechen. Und dann würde er sie ganz ruhig und ohne Zorn einfach aufhängen, weil er in diesem Moment eben das Gesetz verkörperte. So funktioniert es.
»Aber es haben doch alle gesehen, wie er Ataba erschossen hat!«
Richtig. Also hätten alle entscheiden sollen, was zu tun ist.
»Wie hätten sie das tun sollen? Sie wussten nicht, was ich wusste! Und du weißt ja, wie sie sind! Die beiden Männer hatten insgesamt vier Pistolen! Wenn ich sie nicht aus dem Weg geräumt hätte, wären noch mehr Leute erschossen worden! Sie haben davon gesprochen, die Insel zu übernehmen!«
Ja. Trotzdem bleibt es Mord, was du getan hast.
»Und was ist mit dem Henker? Müsste der dann nicht auch ein Mörder sein?«
Nein, weil genügend Leute sagen, dass er es nicht ist. Dafür ist der Gerichtssaal da. Dort wird das Gesetz tätig.
»Und damit wird es unweigerlich richtig? Hat Gott nicht gesagt: ›Du sollst nicht töten‹?«
Ja. Aber danach wurde die Sache erst kompliziert.
Im Türrahmen bewegte sich etwas, und ihre Hand hob die Pistole. Doch dann ließ ihr Gehirn sie wieder sinken. »Gut«, sagte Mau. »Ich möchte nicht ein zweites Mal erschossen werden. Du erinnerst dich?«
Wieder kamen ihr die Tränen. »Das tut mir so furchtbar leid. Ich dachte, du wärst… Ich dachte doch, du wärst ein Wilder«, brachte Daphne mühsam hervor.
»Was ist ein Wilder?«
Sie zeigte mit der Pistole auf Foxlip. »Jemand wie er.«
»Er ist tot.«
»Tut mir leid. Er hat darauf bestanden, sein Bier ohne Ritual zu trinken.«
»Wir haben gesehen, wie der andere zum unteren Wald gerannt ist. Er blutete wie ein krankes Schwein aus der Nase.«
»Er wollte das Bier nicht trinken!«, schluchzte Daphne.
»Es tut mir so leid, dass ich Locaha hierher gebracht habe.«
Maus Augen blitzten. »Nein, diese Männer haben ihn hierher gebracht, und du hast ihn wieder vertrieben.«
»Es werden noch mehr kommen! Sie haben darüber gesprochen«, stieß Daphne hervor.
Mau sagte nichts, sondern legte nur seinen Arm um sie. »Morgen will ich einen Prozess«, sagte sie.
»Was ist ein Prozess?«, fragte Mau. Er wartete eine Weile, aber die einzige Antwort, die er zu hören bekam, war ein leises Schnarchen. Also blieb er bei ihr sitzen und beobachtete, wie der Himmel im Osten langsam dunkler wurde. Dann bettete er sie vorsichtig auf ihre Matte, warf sich die erstarrte Leiche von Foxlip über die Schulter und ging zum Strand hinunter. Die Unbekannte Frau beobachtete, wie er die Leiche in ein Kanu lud und aufs Meer hinauspaddelte, wo Foxlip mit einem Korallenbrocken am Fuß über Bord ging, damit er von etwas gefressen werden konnte, das hungrig genug war, selbst diesen Kadaver nicht zu verschmähen.
Sie sah auch, wie er zurückkam und wieder den Berg hinaufstieg, wo Milo und Cahle an der Leiche von Ataba Wache gehalten hatten, damit er nicht zu einem Geist wurde.
Am nächsten Morgen folgten sie ihm zum Strand, wo sich die Unbekannte Frau und ein paar andere zu ihnen gesellten. Nun ging die Sonne auf, und Mau war nicht überrascht, als er den grauen Schatten sah, der neben ihm schwebte. Irgendwann lief Milo genau hindurch, ohne etwas zu bemerken.
»
Zwei weitere Tode, Einsiedlerkrebs
«, sagte Locaha.
»Macht dich das glücklich?«, knurrte Mau. »Dann schick den Priester in die vollkommene Welt.«
»
Wie kannst du um so etwas bitten, kleiner Einsiedlerkrebs, du, der nicht daran glaubt?
«
»Weil er es getan hat. Und er hatte Mitgefühl, was man von seinen Göttern nicht gerade behaupten kann.«
»
Keine Geschäfte, Mau, auch diesmal nicht.
«
»Wenigstens versuche ich es!«, brüllte Mau. Alle starrten ihn an.
Der Schatten verblasste.
Am Rand des Riffs, über der dunklen Strömung, befestigte Mau Korallenbrocken an dem alten Mann und beobachtete dann, wie er versank, tiefer, als Haie tauchen konnten.
»Er war ein guter Mann!«, rief er in den Himmel. »Er hat bessere Götter verdient!«
Im Dunst des unteren Waldes zitterte jemand.
Es war keine gute Nacht für Arthur Septimus Polegrave gewesen, der unter seinen Freunden – wenn er welche gehabt hätte – »Skepticus« genannt worden wäre. Er wusste, dass er sterben würde, er wusste es einfach. Es konnte nicht anders sein. In diesem Dschungel schien es nichts zu geben, das während der vergangenen tief trüben Stunde nicht versucht hatte, ihn zu beißen, zu stechen oder nach
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