Eine Insel
war eigentlich gar nicht so schlecht, aber wenn alle genug zu essen und einen Platz zum Schlafen hatten, konnte es passieren, dass in all der Arbeit andere Bedürfnisse übersehen wurden, die genauso wichtig waren.
»Kannst du kochen, Blibi?«, fragte Daphne. Die Antwort war ein verhaltenes Nicken.
»Gut! Siehst du den Mann, der da auf der Matte liegt?« Wieder ein Nicken.
»Gut, gut. Ich möchte, dass du auf ihn aufpasst. Er war krank. Das Fleisch in diesem Topf wird gar sein, wenn die Sonne eine Handbreit über den Bäumen steht. Ich muss mir einen Stein ansehen. Sag dem Mann, dass er essen muss. Oh, und du musst auch etwas essen.«
Was soll nur aus mir werden?, fragte sich Daphne, als sie eilig den Hain verließ. Ich habe mit einem jungen Mann im selben Zimmer geschlafen, ohne dass eine offizielle Anstandsdame anwesend war (konnte sie Mrs. Glucker wirklich gelten lassen?), habe Bier gebraut, bin praktisch nackt durch die Gegend spaziert, habe Götter durch meinen Mund sprechen lassen, wie das Testikel von Delphi im antiken Griechenland, obwohl die Stimmen der Großmütter eigentlich nicht zu den richtigen Göttern zählen – und außerdem war es das Orakel von Delphi. Aber genau genommen habe ich ihn einfach gesund gepflegt, was ja wohl noch erlaubt sein wird…
Sie hielt inne und blickte sich um. Wen interessierte das schon?
Wer auf dieser Insel schert sich auch nur ein Sandkörnchen darum? Vor wem versuchte sie sich eigentlich zu rechtfertigen?
»Den Stein wegrollen?« Warum wollten bloß immer alle was von ihm? Sie hatte schon von diesem Stein gehört. Er stand in einem kleinen Tal am Hang des Berges, wo Frauen angeblich nichts zu suchen hatten.
Es gab keinen Grund, jetzt dorthin zu gehen, aber sie war wütend auf alle und wollte an der frischen Luft sein und etwas tun, womit die Leute nicht einverstanden waren. Wahrscheinlich lagen hinter dem Stein ein paar Skelette, aber was war schon dabei? In der Krypta der Kirche wurden viele ihrer Vorfahren bestattet, und die hatten nie versucht, herauszukommen und mit den Lebenden zu sprechen. Da hätte ihre Großmutter auch zweifellos ein Wörtchen mitzureden gehabt, wenn sie es denn getan hätten! Außerdem war heller Tag, und offensichtlich kamen sie nur bei Nacht heraus – abgesehen davon wäre es natürlich reiner Aberglaube, sich vorzustellen, dass sie überhaupt rauskommen könnten.
Daphne marschierte los und folgte einem ausgetretenen Pfad den Berg hinauf. Der Wald war angeblich nicht besonders groß, und der Weg führte mitten hindurch. Hier gab es keine menschenfressenden Tiger, keine riesigen Gorillas, keine wilden Echsen aus Urzeiten… alles in allem also eher langweilig. Aber in einem Wald, der nur ein paar Quadratmeilen groß war und sich in enge Täler zwängen musste, kämpfte alles, was lebte und wuchs, gegen jedes andere Lebewesen um einen Platz an der Sonne, so dass man in jede Richtung nur ein paar Fuß weit sehen konnte. Und auch am Meeresrauschen konnte man sich nicht mehr orientieren, weil es stark gedämpft wurde und sowieso aus allen Richtungen kam. Dann kam einem der Wald nicht nur sehr groß vor, sondern er schien auch noch die ganze Zeit zu wachsen. Und schließlich glaubte man, dass er einen genauso sehr hasste, wie man ihn verfluchte.
Dem Weg zu folgen war sinnlos, weil er schon bald zu hundert kleinen Pfaden wurde, die sich ständig teilten und wieder zusammenführten. Es raschelte unheimlich im Unterholz, und manchmal hörte sie Geschöpfe davongaloppieren, die nach den Geräuschen zu urteilen größer waren als Schweine, auf Pfaden, die sie nicht sehen konnte. Insekten summten und surrten um sie herum, doch sie waren längst nicht so schlimm wie diese riesigen Spinnen, die ihre Netze genau über den Pfad gespannt hatten und mittendrin lauerten. Sie waren größer als eine Männerhand, und Daphne spürte förmlich ihre mordlustigen Blicke. In einem ihrer Bücher über die Inseln des Großen Südlichen Pelagischen Ozeans hatte sie gelesen, dass »die Giftigkeit einer Spinne mit ein paar wenigen, bedauerlichen Ausnahmen – im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Körpergröße steht«.
Daphne glaubte allerdings nicht daran. Überall entdeckte sie »bedauerliche Ausnahmen«, und sie war überzeugt, dass ihnen der Geifer bereits von den Mundwerkzeugen tropfte.
… und plötzlich wurde es vor ihr taghell. Am liebsten wäre sie sofort darauf zu gerannt, doch eine jener »bedauerlichen Ausnahmen«, die ihr Netz wie ein Trampolin
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