Eine italienische Kindheit
Autos auf der Flucht. Dann sahen wir zwei deutsche Soldaten mit Maschinengewehren vorbeirennen. Ein kleiner Fiat fuhr gerade vorbei, die beiden hielten ihn brüllend mit der Waffe in der Hand an, zwangen Fahrer und Fahrgäste auszusteigen, stiegen selbst ein und brausten mit Vollgas davon. Die Leute aus dem Fiat machten sich sofort davon, anscheinend waren es flüchtende Faschisten. Am nächsten Tag, dem 4. Juni 1944 – dieses Datum hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt –, kamen die Amerikaner. Der 5. Armee, die im Januar in Anzio gelandet war, wares endlich gelungen, den deutschen Widerstand zu brechen. Gleichzeitig rückten auch die alliierten Streitkräfte unter dem Befehl des englischen Generals Harold Alexander, die endlich das Hindernis von Montecassino überwunden hatten, mühsam in Richtung Rom vor. Die ersten Amerikaner, die wir sahen, kamen von der Piazza Venezia her. Eine unendliche Reihe von Soldaten bewegte sich im Gänsemarsch rechts und links neben den Bürgersteigen langsam die Via Nazionale hinauf. Kaum hatten die Menschen sie erspäht, liefen alle, die hinter den Fensterläden die Lage beobachtet hatten, auf die Straße, um ihnen zu applaudieren. Auch ich rannte herunter, um mir alles anzuschauen, aber Beifall klatschte ich nicht. Die Amerikaner waren und blieben für mich diejenigen, die meinen Bruder getötet hatten und fast auch mich. Ich spürte keine Sympathie für sie und wollte nur sehen, wie sie aussahen. Nach den Fußsoldaten kamen die Panzer, die ebenso begeistert von der Menschenmenge begrüßt wurden. Sie machten auf mich nicht den gleichen Eindruck wie die deutschen zuvor, sie schienen mir weniger bedrohlich, eleganter und gleichsam wie aufpoliert, sie sahen ganz anders aus als die Ungeheuer aus Stahl und Eisen, die ich im letzten Jahr bewundert hatte. Nach einer Weile kamen dann auch die Jeeps die Straße hoch gefahren, von denen die amerikanischen Soldaten der begeisterten Menge merkwürdige kleine Schachteln zuwarfen. Ich las eine auf, öffnete sie und sah, dass sie Zigaretten, Schokolade und seltsame Bonbons enthielten. Es waren, wie sich herausstellte, Kaugummis, die ich noch nie gesehen hatte.
Amerikanische Panzer in Rom
Schnell füllten die Amerikaner die Stadt, lärmend und in großer Menge. Sie waren überall, aber ich unternahm keinen Versuch, mit ihnen zu fraternisieren oder einen von ihnennäher kennenzulernen. Meine Sympathie gehörte trotz ihrer Niederlage den Deutschen, die jetzt verschwunden waren und die ich lange nicht mehr wiedersehen sollte. Ihr Bild blieb unauslöschlich in meiner Erinnerung zurück. Für mich waren sie gut und tüchtig, vor allem aber ausgezeichnete Soldaten, korrekt gegenüber den Frauen, nüchtern und nicht solche Trunkenbolde wie die Amerikaner. Dies war merkwürdigerweise nicht allein mein Eindruck, denn so dachten, wie Corrado Alvaro meinte, in Rom sogar nicht wenige. Er schreibt im Tagebuch: «Tatsache ist, dass einige Personen, obwohl sie den Deutschen feind sind und vielleicht sogar von ihnen verfolgt worden sind, doch ein heimliches Bedauern verspüren, obwohl dies doch eigentlich dasSchlimmste war. Dabei stahlen, plünderten, massakrierten und terrorisierten die Deutschen. Dieses Gefühl verwundert und verstört. Aber vielleicht ist es der unverschämte Reichtum dieser Besatzer, der demütigt. Mit den anderen gab es wenigstens einen Berührungspunkt, die gemeinsame Armut. So schnell werden die grässlichsten Leiden vergessen.» Aus meiner Sicht waren die Amerikaner jedenfalls miserable Soldaten, sie konnten nicht marschieren, konnten nicht hackenschlagend strammstehen, hatten Gummisohlen unter den Stiefeln, mit denen sie nicht in klingendem Tritt und Schritt marschieren konnten. Sie hatten keine Haltung, liefen mit Prostituierten herum, die vorher nie auf der Straße zu sehen gewesen waren, jetzt aber, angelockt vom Geld, das die Amerikaner mit vollen Händen um sich warfen, ganze Bürgersteige füllten. Die Prostitution florierte auf den Straßen der Stadt. Corrado Alvaro beschreibt eine kleine Szene aus jenen Tagen, die ein bestürzendes Zeugnis dieser Situation darstellt. «Ein römisches Mädchen, dem Anschein nach aus anständiger Familie, sprach mit einer Freundin. ‹Wie geht’s? Was für ein schönes Kleid!› ‹Ich geh auf den Strich für die Amerikaner. Ich war halb tot vor Hunger, hatte nur Fetzen am Leib. Jetzt habe ich das Haus voll. Sie sind sauber, benutzen alle ein Präservativ, und wenn’s zu
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