Eine italienische Kindheit
Eingang staute sich eine riesige Menge, bewacht von ein paar britischen Soldaten – ich erkannte sie an ihren pfannenförmigen Helmen –, die mühsam die Ordnung aufrechtzuerhalten suchten. Sie brüllten aus vollem Hals, aber nichts konnte die Menge in Schach halten. Nach längerem Warten gelang es meinen Begleitern, sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen und mich auf den Bahnsteig zu bringen, wo der Zug wartete. Sie fanden sogar in einem Abteil einen Sitzplatz für mich, empfahlen mich warm einer Frau, die dort schon saß, und gingen. Der Zug war in einem unbeschreiblichen Zustand. Ich reiste in einem Wagen dritter Klasse mit Holzbänken, die zum Teil zerrissenen Gepäcknetze waren bis zur Decke vollgestopft mit Koffern und Taschen. Die Türen und die Fenster schlossen nicht richtig, und wenn es regnete, wurden wir nass. Die Reise war unendlich lang, denn der Zug hielt immer wieder lange an kleinen verlassenen Bahnhöfen in Lukanien und in Kalabrien. Einmal mussten wir, wenn ich mich recht erinnere, sogar aussteigen, weil die Gleise zerstört waren, undeinen Autobus bis zum nächsten Bahnhof nehmen, wo ein neuer, ebenso heruntergekommener Zug wartete. Nach unendlichen Stunden Zugfahrt, die zwei Tage und eine Nacht dauerte, kamen wir endlich in Villa San Giovanni an. Jetzt aber kam das Abenteuerlichste. Die großen Fähren über die Meerenge von Messina verkehrten nicht mehr. Die Frau, der ich anvertraut worden war, und die anderen Mitreisenden des Abteils, die, gezwungen von der gemeinsamen Notlage, inzwischen eine feste Gruppe gebildet hatten, nahmen den Weg zum Hafen, wo Fischerboote lagen, die einen privaten Fährdienst leisteten. Wir bestiegen eines dieser Boote und begannen die Überfahrt. Es war eine Vollmondnacht, ein leichter Wind blies, das dunkelblaue Meer war ruhig und kaum bewegt von leichten Wellen.
Die Fahrt in einem Boot, das abwechselnd die Ruder und ein großes Segel zur Fortbewegung benutzte, ließ mich sofort an die Episode aus der
Odyssee
denken, die wir in einer auf unser Alter zugeschnittenen Version in der Schule gelesen hatten, und speziell an die Mahnung der Zauberin Circe an Odysseus, bei der Durchfahrt durch die Meerenge sehr vorsichtig zu sein, da Skylla und Charybdis hier hinter den Klippen den Seefahrern auflauerten. Die Lektüre hatte mich belehrt, daß Skylla, ein schreckliches Ungeheuer mit zwölf unsichtbaren Füßen und sechs auf riesenlangen Hälsen sitzenden Köpfen, an der kalabrischen Küste in einer Felsgrotte hauste und so scharfe Zähne hatte, dass es jedes lebende Wesen, das in seine Nähe kam, zermalmte und verschluckte. Es war der Schrecken aller Seefahrer. Charybdis saß dagegen an der sizilischen Küste und war nicht ganz so fürchterlich. Es lag verborgen unter einem Feigenbaum mit dichten Blättern und saugte das Meerwasser auf mit allem,was sich gerade darin befand. Die homerische Erzählung greift zweifellos eine alte Legende auf, die ihren Ursprung in den realen Schwierigkeiten der Durchfahrt durch die Meerenge hatte. Die starken Winde, die hier wehen, und die schnellen, unregelmäßigen Meeresströmungen stellten im Laufe der Jahrtausende eine große Herausforderung für die Seefahrer dar. Hier stoßen das Ionische und das Tyrrhenische Meer aufeinander und suchen unter dem Einfluss der Gezeiten ihr Niveau anzugleichen, was dort, wo die die Durchfahrt am engsten ist, zu gefährlichen Wirbeln und Strömungen führt.
Unsere Überfahrt verlief dagegen ruhig. Die Route führte in einiger Entfernung von der schwierigsten Stelle vorbei, wo die Strömungen nicht so stark waren – wir spürten sie jedenfalls nicht. Ähnlich friedlich muss die Rückreise Goethes mit dem Schiff von Messina nach Neapel gewesen sein. Er dachte gar nicht an die möglichen Gefahren, obgleich er doch kurz zuvor die
Odyssee
gelesen hatte. Erst ein Mitreisender erinnerte ihn an die Geschichte von Skylla und Charybdis. Ohne je in Italien, geschweige denn in Sizilien gewesen zu sein, schrieb Schiller 1797 die Ballade
Der Taucher
, der eine schon im 13. Jahrhundert bezeugte sizilianische Legende zugrunde liegt. Es ist unbekannt, woher Schiller sie kannte. Die Ballade erzählt folgende Geschichte: Cola Pesce (Cola, der Fisch), ein erfahrener Schwimmer aus Messina, lebte ständig unter Wasser im Meer, was ihm seinen Namen eingetragen hatte. Wegen dieser Fähigkeit befahl ihm der König von Sizilien, ein Schwert und einen Ring, die er ins Meer geworfen hatte, aus dem
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