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Eine italienische Kindheit

Eine italienische Kindheit

Titel: Eine italienische Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Zapperi
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Bevölkerung, was aber von der deutschen Besatzung blutig unterdrückt wurde. Mein Vater lud ab und zu Bekannte, die nichts mehr zu essen hatten, zu uns ein. Es war merkwürdig, bei Tisch fast unbekannte Leute vorzufinden, die glücklich darüber waren, die frugalen Mahlzeiten mit uns zu teilen, die nur aus gekochtem Reis, gefolgt von Brot und Schinken, bestanden. So etwas hatte es vorher noch nie gegeben. Die Zeiten waren hart, aber man wartete immerzu auf die Ankunft der Amerikaner. Deshalb schien es kein allzu großes Risiko, die kargen Vorräte mit ein paar hungrigen Bekannten zu teilen.
    Das Schuljahr ging in diesem Jahr früh zu Ende. Die extreme Unsicherheit der Situation – die Amerikaner standen vor Rom, und die Faschisten befürchteten von Tag zu Tagihre Ankunft – hatte die Schulverwaltung veranlasst, einen vorgezogenen Abschluss anzuordnen. Schon am 24. April 1944 entstand deshalb ein im Schulhof aufgenommenes Klassenfoto, welches das Schuljahr besiegelte. In der ersten Reihe die Lehrer, angeführt links vom Religionslehrer in der Priestersoutane, in der Mitte der Schuldirektor und die Lehrerin für Italienisch, Latein, Geschichte und Geographie, unsere Klassenlehrerin. Hinter ihnen stehen in zwei Reihen die Schüler. Ich selbst bin der zweite von rechts in der ersten Reihe. Wie man sieht, trage ich eine schwarze Krawatte und ein schwarzes Band am rechten Revers zum Zeichen der Trauer um meinen vor kurzem ums Leben gekommenen Bruder. Auf der Rückseite des Fotos stehen zwei Widmungen. Die erste stammt von einem gewissen Mario, von dem ich nichts Genaueres mehr weiß. Er wünscht mir eine baldige Rückkehr in mein sizilianisches «Vaterland» und unterschreibt «dein Freund auf immer». Er muss einer jener Mitschüler gewesen sein, die mich, wie ich schon erzählt habe, als Flüchtling aus Sizilien diskriminiert hatten. In diesem Sinne impliziert der Gebrauch des in der faschistischen Rhetorik so gern gebrauchten Wortes «Vaterland» für meine Herkunft eine klare Distanzierung. Wenn «Vaterland» auch Teil des allgemeinen Wortgebrauchs geworden war, so bezeichnete es doch Italien als Ganzes, nicht nur eine seiner Regionen. Ich kam also für diesen römischen Jungen aus einem anderen Land und sollte seiner Meinung nach so bald wie möglich wieder dorthin zurückkehren, denn als Flüchtling war ich in Rom nicht willkommen. Sein guter Wunsch bedeutete also eine Art Entlassung: Geh wieder dahin, woher du gekommen bist! Die zweite Widmung ist mit dem Namen Vito unterschrieben. Vito war mein sizilianischerSchulfreund, der genauso von der Klasse ausgegrenzt worden war wie ich. Er bezeichnete sich als meinen «dir herzlich zugeneigten Mitschüler» und grüßte mich «kameradschaftlich». Wie ich schon geschrieben habe, redeten sich alle Mitglieder der Faschistischen Partei mit «Kamerad» an. Vito aber muss dieses Wort naiverweise gebraucht haben, um gegen den Ostrazismus der römischen Mitschüler unsere Zugehörigkeit zur italienischen Nation zu betonen und letztlich der Enttäuschung über den unerfüllten Wunsch einer Integration in die Klasse Ausdruck zu geben.
    Klassenfoto 1944
    Zu erklären bleibt noch die Zugehörigkeit des Geistlichen zum Lehrkörper. Man muss wissen, dass die am 11. Februar 1929 von Mussolini mit dem Staatssekretär des Heiligen Stuhls, Kardinal Pietro Gasparri, unterzeichneten Lateranverträge den Katechismusunterricht an allen Schulen des Königreichs gesetzlich vorschrieben. Mit dieser Übereinkunft beendete der Duce ein für alle Mal die «römische Frage», die 1870 durch die Annexion Roms und seine Bestimmung als Hauptstadt des vereinten Italiens entstanden war. Papst Pius XI. war darüber so erfreut, dass er Mussolini feierlich und öffentlich als den «Mann der Vorsehung» pries. Dies bedeutete für den Duce eine Anerkennung von höchster Seite und die dauerhafte Unterstützung seiner faschistischen Diktatur durch die Kirche, die nicht zögerte, sogar der katholischen Partei ihre Unterstützung zu entziehen. Ihr Führer Don Sturzo war gezwungen, ins Exil zu gehen. Dennoch wurde der Religionsunterricht von den Schülern nie sehr ernst genommen, und keinem dieser Lehrer im Priestergewand gelang es je, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
    Anfang Juni 1944 begannen die Deutschen ihren Abzug ausRom. Eines Morgens herrschte auf einmal größte Stille, die Straßen waren leer, und versteckt hinter den geschlossenen Fensterläden sahen wir auf der Via Nazionale ein paar einzelne

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