Eine Jungfrau Zu Viel
Helena konnte sie sehr gerecht sein. Sie war eine weltkluge Frau; inzwischen gelang es ihr sogar, auch mir gegenüber gerecht zu sein. »Der Flamen Dialis und seine Frau werden aus einem sehr engen Kreis ausgewählt – sie müssen strikte traditionelle Kriterien erfüllen. Sie muss Jungfrau sein …«
»Was bestimmt keine Schwierigkeit ist!«, warf Decimus sarkastisch ein.
»Sie müssen beide Eltern haben, die durch confarreatio verheiraten wurden, diese altmodische religiöse Zeremonie mit zehn Zeugen, in Anwesenheit des Pontifex Maximus und des Flamen Dialis. Dann, Marcus, müssen auch sie mit denselben Zeremonien heiraten und können nie geschieden werden. Die Chancen, dass sie einander erträglich finden, sind von vornherein minimal, und wenn es schief geht, sitzen sie lebenslang in der Falle.«
»Wozu noch der Druck kommt, ständig zusammen in der Öffentlich auftreten und ihre offiziellen Funktionen ausüben zu müssen«, meinte ich.
»Oh, jeder kann diese öffentlichen Auftritte durchstehen!«, widersprach Julia Justa. »Die Spannungen entwickeln sich eher zu Hause.«
Wir nickten alle weise und gaben vor, häusliche Unstimmigkeiten als etwas Abseitiges zu betrachten, wozu uns die Erfahrung fehlte. Wie man das so macht.
»Und was hat das kleine Mädchen denn nun für Probleme?«, fragte der Senator.
»Überhaupt keine, laut der Familie«, erwiderte ich. »Das Kind selbst hat Helena erzählt, es fühle sich ernsthaft bedroht. Sie kam zu uns mit dieser Geschichte, und ich muss zugeben, dass ich sie nicht ernst genommen habe. Ich hätte ihr mehr Fragen stellen sollen.«
»Wenn sie wirklich als nächste Vestalin vorgesehen ist«, bemerkte Julia Justa, »wäre ihre Familie genau die richtige, sich in diesem Glanz zu sonnen. Welche Konflikte könnte es da geben? Macht sie Ärger, weil sie ausgewählt worden ist?«
»Angeblich soll sie überglücklich sein.«
»Ich habe den Verdacht«, erklärte Helena, »meine Großmutter würde sagen, Gaia solle froh sein, diesen Verwandten zu entkommen.«
»Sie klingen ziemlich scheußlich.«
»Fossilien!«, murmelte Decimus.
Wir hatten die Laelii lange genug beleidigt. Da das Essen beendet war, verzog sich Helena mit ihrer Mutter, um ihr zu erzählen, was in Nordafrika mit Justinus und Claudia passiert war. Ihr Vater und ich belegten das Arbeitszimmer des Senators mit Beschlag, ein enges Kabuff voller Schriftrollen, die Decimus zu lesen begonnen und dann vergessen hatte. Wir zündeten Lampen an, warfen Kissen auf die Leseliege und taten so, als gäbe es genug Platz, sich auf elegante Weise auszustrecken. Denn obwohl das Haus der Camilli geräumig war, hatte man dem Hausherrn nur diese winzige Abstellkammer gegönnt, wie er gern zu sagen pflegte.
Trotzdem gab es genug Platz für zwei einander wohl gesonnene Burschen, sich zu entspannen, wenn sie nicht unter Beobachtung standen.
VII
Wie es sich für ein anständiges Männersymposium gehörte, hatte wir einen schönen Glasdekanter mit albanischem Wein mitgebracht. Helenas Mutter hatte uns aufgetragen, uns um meine Tochter zu kümmern. Offenbar hatten die grimmig schauenden Haussklaven zu viel zu tun. Wir hatten geprahlt, dass Kinderhüten durchaus zu unseren Fachkenntnissen gehörte. Der Senator setzte Julia auf einen Teppich und ließ sie alles anfassen, was ihr unter die Finger kam. Da ihr erlaubt worden war, bei den Erwachsenen zu spielen, machte sie keinen Ärger; sie vergnügte sich damit, mit dem Inhalt von Decimus’ Stilusschale Mikado zu spielen. Ich war ein realistischer Vater und gedachte sie auf das Leben vorzubereiten. Selbst ein Jahr und vier Tage konnte für ein Mädchen nicht zu jung sein, sich mit männlichem Verhalten vertraut zu machen, wenn diese Männer sich mit einer guten Flasche Wein zurückzogen.
»Also! Erzählen Sie mir, wieso Aelianus mit den Arvalbrüdern uralte Hymnen singt?«
Sein Vater seufzte. »Es wird Zeit, dass er seiner Ämterlaufbahn ein paar Verzierungen hinzufügt.«
»Diese Woche höre ich offenbar überall nur von religiösen Kulten. So weit ich mich erinnern kann, ist die Bruderschaft die älteste in Rom – stammt von unseren bäuerlichen Vorfahren ab, oder? Und zelebrieren sie die Fruchtbarkeit nicht mit ausgedehnten Festmahlen? Hört sich so an, als hätte Ihr Sohn eine gute Wahl getroffen.«
Decimus grinste, wenn auch ziemlich abwesend. Er zog es wohl vor, die Sache als einen nüchternen Schritt zu betrachten.
»Und wie werden die Mitglieder ausgewählt?
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