Eine Katze hinter den Kulissen
möglichen Theater- und
Ballettkarten bekommen könnte, auch die für die Vorstellung
des Nußknackers am
Heiligen Abend. Das war meine Art, ihr zu zeigen, daß ich zwar
Catsitterin war, aber noch ein anderes Leben führte, ein Leben auf
einem kulturell viel höheren Niveau als ihres, egal, wie reich sie
war.
Das war ein bißchen übertrieben.
Normalerweise bin ich nicht so kleinlich. Aber die Weihnachtszeit in
New York ist immer so eine Sache, auch für ein Bauernmädchen
aus Minnesota, das schon seit mehr als zwei Jahrzehnten in Manhattan
lebt. Und meine Unterhaltung mit Mrs. Timmerman fand neunzehn Tage vor
Heiligabend statt.
Um meine dumme Bemerkung zu relativieren, bot ich ihr
an, die Karten zu besorgen und die Kinder in die Vorstellung zu
begleiten. Alle waren hellauf begeistert, außer Belle, der Katze,
und mir.
So war es also dazu gekommen, daß ich am Heiligen Abend mit einer ganzen Horde Kinder im Nußknacker saß,
auf einem teuren Logenplatz des Staatstheaters, mitten in der ganzen
weihnachtlichen Pracht aus Lichtern, Farben, Musik und Phantasie.
Um ehrlich zu sein, Tschaikowski hat mir nie
besonders gelegen, und so ließ ich schon nach der ersten Szene
meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen und versuchte, mir
vorzustellen, wie die erste Aufführung des Nußknackers in
den Vereinigten Staaten wohl ausgesehen haben könnte. Sie hatte
1940 stattgefunden, als ich noch gar nicht geboren war, in der alten
Metropolitan Opera. Das Ballet Russe aus Monte Carlo hatte getanzt.
Alicia Markova war die Zuckerfee gewesen und André Eglevsky
Prinz Florestan.
Aber es gelang mir nicht, die Inszenierung vor meinem
inneren Auge heraufzubeschwören, und so döste ich einfach ein
wenig. Meine Schäfchen waren dagegen völlig gebannt. Im
Halbschlaf sah ich meine beiden Katzen Bushy und Pancho vor mir, wie
sie für eine Aufführung des Nußknackers probten, in der alle Partien von Katzen getanzt wurden.
Ich öffnete meine Augen in dem Moment, als auf
der Bühne gerade der Mäusekönig von der Prinzessin zur
Strecke gebracht wurde.
Die Tür zu unserer Loge war einen Spalt breit geöffnet worden.
Lucia Maury stand da. Ich hatte gar nicht
gewußt, daß sie auch in der Weihnachtsvorstellung sein
würde. Sie hatte es nicht erwähnt.
Sie rührte sich nicht. Sie hielt einen Finger
vor den Mund, um mir zu bedeuten, daß die Kinder ihre Anwesenheit
nicht bemerken sollten. Es war ziemlich sonderbar.
Dann winkte sie mit der Hand.
Ich ging hinaus. Die Kinder waren viel zu fasziniert von dem Ballett, um überhaupt zu bemerken, daß ich weg war.
In dem Moment, als ich aus der Loge kam und leise die
Tür hinter mir schloß, wurde mir klar, daß Lucia in
irgendwelchen Schwierigkeiten steckte. Sie krümmte ihren mageren,
knochigen Körper, und sie war sehr blaß. Sie hatte die
langen Ärmel ihres hübschen schwarzen Kleides bis über
die Ellbogen aufgekrempelt, als ob sie körperliche Arbeit
verrichten wolle.
»Lucia! Was ist los?«
Sie wollte antworten, brach aber in Tränen aus. Sie schluckte sie herunter, griff meinen Arm und zog mich den Gang entlang.
Gelangweilte Platzanweiser starrten uns an. Die Musik von drinnen war nur noch ganz leise zu hören.
Sie schleifte mich durch das Foyer im
Halbgeschoß, an der Bar vorbei, wo schon alles für die Pause
vorbereitet war, und durch eine Glastür hinaus auf den Balkon.
Es war kalt. Ein kräftiger Wind wehte. Die ganze
Stadt war festlich erleuchtet. Die Fontäne unten auf der Plaza sah
wundervoll aus. Ich konnte die Glocken der
Heilsarmee-Weihnachtsmänner auf dem Broadway hören.
Zuerst dachte ich, wir beide wären die einzigen Menschen auf diesem windigen Balkon.
Aber dann sah ich am westlichen Ende vor der Wand eine kleine Gruppe von Leuten. Mindestens zwei davon waren Polizeibeamte.
Lucia fing an zu zittern. Ungefähr anderthalb Meter vor der Gruppe blieb sie stehen.
Plötzlich wußte ich, warum wir hier waren.
An die Wand gelehnt saß ein Penner ohne Schuhe.
Seine leuchtend blauen Augen waren weit aufgerissen.
Ich wollte eigentlich meinem Ärger Luft machen,
daß sie mich auf einen eiskalten Balkon geschleppt hatte, nur um
mir einen Betrunkenen zu zeigen. Schließlich gab es Hunderte von
dieser Sorte in der Umgebung des Lincoln Center.
Aber dann fiel mir an diesem Betrunkenen noch etwas
auf, abgesehen von der Tatsache, daß er wunderschöne Augen
hatte und im Dezember keine Schuhe trug.
Der Mann hatte ein Loch in der Stirn. Ein kleines, ausgefranstes Loch.
Der
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