Eine Katze hinter den Kulissen
Patrick’s Cathedral;
Krippe-spielszenen aus irgendwelchen Vororten. Peter Dobrynins Tod war
auf der fünften Seite gelandet.
TOD EINES TÄNZERS lautete die fettgedruckte Schlagzeile.
Den Artikel zierten mehrere Fotos von Dobrynin in
seinen berühmtesten Rollen und ein einzelner, kleiner
Schnappschuß von der Bahre, auf der die abgedeckte Leiche in
einen wartenden Krankenwagen gebracht wurde.
Zwischen den Fotos erläuterte eine umrahmte
Textpassage noch einmal den kometenhaften Aufstieg Peter Dobrynins in
der Welt des Tanzes - und seinen ebenso kometenhaften Fall.
Der Text war kurz und sachlich.
Der gefeierte Ballettänzer Peter Dobrynin
wurde letzte Nacht erschossen im Staatstheater im Lincoln Center
aufgefunden, während das New York City Ballet gerade seine
traditionelle Weihnachtsvorstellung von Tschaikowskis Nußknacker
gab. Der tote Dobrynin trug keine Schuhe.
Angestellte des Lincoln Center glaubten
zunächst, der Tote sei ein Obdachloser aus der Umgebung, dem es
gelungen war, unbemerkt das Theater zu betreten. Aber mehreren
Besuchern des Balletts fiel die Ähnlichkeit zwischen dem Toten und
Dobrynin auf, der sich in den letzten Jahren aus der
Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Diese Identifizierung
wurde später bestätigt.
Die Polizei gab bekannt, daß das Tatmotiv
noch ungeklärt ist. Es gibt derzeit noch keine Verdächtigen
oder Tatzeugen. Die Tatwaffe ist noch nicht gefunden worden. Nach
Aussage der Polizei ist Dobrynin höchstwahrscheinlich während
der Anfangsszenen des Balletts auf dem Balkon des Theaters erschossen
worden.
Ende der Geschichte. Offenbar war die Zeit zu knapp
gewesen, die üblichen Lobeshymnen zu verfassen. Der Rest der
Weihnachtsausgabe enthielt Reportagen über bedauernswerte
Polizeibeamte und andere unentbehrliche städtische Angestellte,
die an den Feiertagen arbeiten mußten.
Lucia schob die Zeitung von sich weg in die Mitte des
Tisches. Wir schauten einander an. Was sollte man jetzt sagen,
vielleicht »Fröhliche Weihnachten«? Sie nahm einen
Schluck Kaffee.
»Hast du keinen Weihnachtsbaum, Alice?« fragte sie und schaute sich um.
Ich lachte kurz auf. Nun, ich hatte zwar einen Kranz
aus Tannenzweigen an die Wohnungstür gehängt, aber auch nur,
weil die Hersteller einer Handcreme, für die ich mal ein paar
Werbespots gesprochen hatte, ihn mir geschickt hatten. Der Kranz war
einfach zu grün und zu schön gewesen, um ihn
wegzuschmeißen.
»Ich habe seit Jahren auch keinen
Weihnachtsbaum mehr«, gab Lucia zu. Dann lächelte sie.
»Hast du schon mal darüber nachgedacht, was für ein
trauriges Schicksal Weihnachtsbäume haben?«
Mir war klar, daß sie im Grunde gar nicht
über Bäume sprach, aber ich wußte nicht, was ich auf
ihre Bemerkung antworten sollte.
Lucia nahm ihre Kaffeetasse und ging hinüber zum
Fenster. Ich blieb, wo ich war, und ließ sie ihren Gedanken
nachhängen.
Wenig später sah ich, wie sie erstarrte, während sie hinunter auf die Straße blickte.
»Oh, schau doch mal! « rief sie aus.
»Was ist denn?« Ich wollte schon aufstehen.
»Oh ... nein, nichts. Ich dachte, ich hätte eine Gruppe Kinder gesehen, die singend von Haus zu Haus zieht.«
»Aber doch nicht in diesem Viertel,
meine Liebe«, sagte ich. Ich wollte gerade eine zynische
Bemerkung über den einzigen Grund machen, den es in diesem Viertel
für eine Gruppe Kinder gibt, sich zusammenzurotten. Aber Lucia
hatte sich vom Fenster abgewandt, und ich sah ihr an, daß sie
Angst hatte.
»Es ist so schrecklich, so
fürchterlich!« schluchzte sie und vergrub ihr Gesicht in den
Händen. »Dieses verdammte, grauenhafte Weihnachten.«
Wie ich da so saß und zuschaute, wie sich meine
verzweifelte Freundin die Augen ausweinte, fiel mir komischerweise
eines der vielen glücklichen Weihnachtsfeste ein, die ich bei
meiner Großmutter in Minnesota verbracht hatte. Bei uns zu Hause
auf der Farm war Weihnachten ohne alle religiösen Bräuche
gefeiert worden, aber es waren immer ganz besondere Tage gewesen. Alles
schien dann außergewöhnlich zu sein: die mächtige,
unbeschnittene Rottanne, deren Zweige bis auf die Veranda ragten; die
Routinearbeiten, die erledigt werden mußten, ob nun Weihnachten
war oder nicht; das riesige Frühstück, zu dem es Pfannkuchen,
selbstgekochte Marmelade und köstliche Würste gab, die ein
Nachbar gemacht und meiner Großmutter geschenkt hatte; die
praktischen Geschenke, meist Kleidungsstücke, und fast nur
Winterklamotten; und schließlich das Geld, daß
Großmutter
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