Eine Katze kommt selten allein
ein Notizbuch und das Telefonbuch und setzte mich an den Apparat.
Zuerst einmal die Namen aus der Vergangenheit: Schauspieler, Schauspielerinnen, Regisseure, Produzenten, Schauspiellehrer – Namen, an die ich seit Jahren nicht gedacht hatte, von denen mir aber immer mehr einfielen, als ich damit angefangen hatte, sie aufzuschreiben.
Zuerst kamen die Namen, dann die Gesichter, dann die Erinnerungen.
Normalerweise hätte ich Bedenken gehabt, diese Leute aus heiterem Himmel anzurufen; aber ich hatte ein Problem, das ich allein nicht lösen konnte. Also los, wähle einfach die Nummern, sagte ich mir.
Das tat ich dann auch. Einige der alten Bekannten freuten sich riesig, von mir zu hören. Manche wollten sich ausgiebig mit mir darüber unterhalten, was in all den Jahren geschehen war, und sich mit mir zum Essen treffen. Viele Namen standen nicht im Telefonbuch; doch andere alte Bekannte gaben mir Nummern von Leuten, die mir vielleicht weiterhelfen konnten.
Doch niemand in diesem sich ausbreitenden Netz aufsteigender Erinnerungen konnte mir sagen, was aus Anthony Basillio geworden war – falls sie ihn überhaupt gekannt hatten.
Ich blickte auf die Uhr. Seit zwei Stunden telefonierte ich ununterbrochen. An die Rechnung wollte ich lieber nicht denken. Meine Hand am Hörer war verkrampft, meine Kehle rauh. Jeder Anruf, jeder erste Satz wurden schwieriger.
»Hallo, hier ist Alice Nestleton. Vielleicht kannst du dich noch an mich erinnern…«
Dann das unvermeidliche Schweigen, gefolgt von: »Du liebe Güte, ja – Alice! Mein Gott, ist das lange her.«
Um halb zehn gestand ich mir nur noch sechs Anrufe zu. Mit dem dritten erreichte ich Winslow Jarvis, einen Schwulen, der Mitglied der berühmten 1969er Dionysos-Theatertruppe an der Wooster Street gewesen war.
»Natürlich kenne ich Basillio«, sagte Jarvis, nachdem wir ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten. »Habe ihn allerdings seit Jahren nicht gesehen. Soviel ich weiß, gehört ihm eine Kette kleiner Fotokopier-Läden in Greenwich Village und der Lower East Side. Die Läden haben einen komischen Namen. Hat irgendwas mit Brecht zu tun, glaube ich.«
» Mutter Courage ?« fragte ich.
»Ja! Genau!«
Ich bedankte mich und legte auf. Daß Anthony Basillio heute eine Kette kleiner Fotokopier-Läden gehörte, kam mir wie die traurigste Geschichte vor, von der ich in meinem ganzen Leben gehört hatte.
15
Als ich ein Kind war, hatte meine Großmutter eine Hauskatze namens Peter, die sich standhaft weigerte, von einem Teller zu fressen. Meine Oma war ziemlich stolz auf Peter gewesen und hatte von ihm behauptet, daß man ihm trauen könne, weil er nicht von einem Teller fräße. Diese eigenartige Logik hatte ich nie begriffen – aber ich hatte immer schon ähnlich absurde Gedanken gehabt, wenn ich an Anthony Basillio dachte.
Jedenfalls machte ich mich auf die Suche nach ihm. Der am nächsten gelegene Laden der Mutter-Courage-Kopierkette befand sich an der Second Avenue. Nein, sagte das Mädchen hinter dem Ladentisch, Mr. Basillios Büro befände sich in seinem Geschäft an der Sixth Avenue, in Prince.
Gegen Viertel nach elf erreichte ich den Laden. Er war größer als der, in dem ich zuvor gewesen war; der hintere Teil war ein Komplex aus kleinen Büros und winzigen Lagerräumen. Hinter dem Ladentisch standen drei oder vier junge Männer und bedienten einen steten Strom von Kunden. Die Kopiergeräte – sämtliche Größen und Fabrikate – summten leise vor sich hin.
Ich stellte mich ein Stück abseits, um mich optisch vom Rest der Kundschaft abzuheben. Schließlich kam einer der Angestellten zu mir. Er trug eine seltsame Lederschürze, wie ein Drucker in vergangen Zeiten. Ich erinnerte mich, daß Jo an jenem schicksalhaften Morgen, als wir von Mona Aspens Ermordung erfuhren, genauso eine Schürze getragen hatte. Nur hatte ich das Ding bei Jos zwergenhaftem Wuchs für die Schürze eines Hufschmieds gehalten.
»Kann ich Ihnen helfen, Miß?«
»Ich suche Anthony Basillio.«
»Er ist nicht da.«
»Kann ich auf ihn warten?«
»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Miß, nein. Mr. Basillio ist den ganzen Tag nicht im Hause.«
»Und wie sieht’s morgen aus?« fragte ich.
»Wissen Sie, Miß, wenn Sie Mr. Basillio wirklich sprechen möchten«, sagte der Angestellte mit wachsender Verzweiflung, »müssen Sie früher kommen. Er geht jeden Tag gegen elf Uhr aus dem Geschäft und fährt zur Pferderennbahn, und dann taucht er erst am nächsten Morgen wieder
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