Eine Katze kommt selten allein
Stallpersonal – jeder trug deutlich sichtbar einen Ausweis am Revers.
War Ginger nach Long Island geflüchtet? Nein, dort kannten sie zu viele Leute.
Sie konnte tausend Meilen weit weg sein, in einem Kuhdorf im Süden oder Mittelwesten. Dann würde ich sie niemals finden. Ich mußte von der Annahme ausgehen, daß Ginger sich an einem Ort aufhielt, wo ihr Gesicht nur eines von Millionen anderer war – die perfekte Tarnung. Sie mußte hier in New York sein, vielleicht sogar in Manhattan! Hier wäre sie nur eine von ungezählten jungen Frauen auf Jobsuche…
Doch wo konnte eine Trainingsreiterin, eine leidenschaftliche Pferdeliebhaberin, in Manhattan Arbeit bekommen?
Meine Hand mit der Kaffeetasse zitterte leicht. Plötzlich wußte ich, wo Ginger Mauch arbeitete. Natürlich, es konnte gar nicht anders sein! Sie arbeitete im letzten Reitstall, den es in Manhattan noch gab – dem Claremont an der neunundachtzigsten Straße West.
Als ich nach New York gekommen war, war ich oft an diesem Reitstall gewesen. Ich hatte lange Spaziergänge auf dem Reitweg gemacht, der durch den Central Park führt, und war den Reitern und Pferden bis zu den Ställen gefolgt. Ich hatte bestaunt, wie die erfahrenen Pferde sich vorsichtig den Weg durch die vom Verkehr verstopften, vollgeparkten Straßen suchten, sobald sie den Central Park verlassen hatten.
Ich zog mich hastig an, ohne nachzudenken. Als ich fertig war, stellte ich fest, daß ich die Sachen trug, die ich normalerweise nur dann anzog, wenn ich Schauspielschüler unterrichtete: Jeans und ein altes Sweatshirt mit dem Aufdruck EIGENTUM DER ABTEILUNG SPORT – UNIVERSITÄT VON VIRGINIA. Ich weiß bis heute nicht, wie oder wo ich an das Sweatshirt herangekommen bin – irgendwann war es einfach aufgetaucht.
Deine instinktive Bekleidungs-Auswahl ist ein gutes Omen, ging es mir durch den Kopf. Beim Schauspielunterricht versuchte man immer, die eigene natürliche Schönheit abzuschwächen; denn sie wurde als nebensächlich betrachtet. Es kam vor allem darauf an, sich tief in eine andere Person zu versetzen. Und genau das tat ich ja.
Ich versuchte, in Ginger Mauchs Rolle zu schlüpfen, mich in ihre Gedanken zu versetzen und nachzuvollziehen, was sie tat und warum. Ich war ein Bluthund… eine Choreographin… eine alberne, einundvierzigjährige Schauspielerin in Aktion. Ich mußte kichern. Vielleicht kennen Sie den Spruch: Beduinen schärfen ihren Blick, indem sie das Weiße in ihren Augen blau bemalen.
Ich faltete das einzige Foto zusammen, das ich von Ginger besaß – auf dem sie mit Cup of Tea und der unbekannten Calico-Katze zu sehen war –, und verstaute es sorgfältig in meiner Handtasche. Dann verließ ich die Wohnung, nachdem ich meine Katzen davor gewarnt hatte, irgendwelche Dummheiten anzustellen. Ich nahm den Bus von der Third Avenue zur Seventh-ninth Street und ging dann in westlicher Richtung durch den Central Park.
Der Reitstall hatte sich nicht verändert. Zu beiden Seiten des Eingangstores standen immer noch dieselben abbröckelnden Säulen aus Sandstein. Es gab es immer noch den kleinen Übungsplatz mit dem niedrigen Geländer, und immer noch führte dieselbe tückische Rampe vom Übungsplatz zu den Stallungen in der ersten Etage. Im Bürotrakt war es immer noch so gerammelt voll wie in einem U-Bahn-Waggon, obwohl früher Vormittag war. Es wimmelte von Kindern, Eltern, Reitlehrern und anderem Personal.
Schließlich nahm ich einen Mann ins Visier, der die verwaltungsmäßigen Verantwortlichkeiten auf den Schultern zu tragen schien. Ich tischte ihm die alte Version meiner Lügengeschichte auf: daß ich ein Buch über das berühmte Rennpferd Cup of Tea schreiben wolle, und mir sei zu Ohren gekommen, daß eine seiner ehemaligen Trainingsreiterinnen seit einiger Zeit hier arbeite.
Der Mann, der eine Pfeife um den Hals trug und die Enden seiner Jeans in seine Reitstiefel gestopft hatte, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte mich ungeduldig an, als wäre ich eine Vertreterin, die ihm einen langen Vortrag über die Vorzüge ihrer Produkte halten wollte. »Das ist mir neu«, sagte er mit einem schweren ausländischen Akzent, den ich nicht einordnen konnte.
»Sie heißt Ginger Mauch.«
»Hier arbeitet keine Ginger Mauch.«
»Vielleicht als Stallmädchen.«
»Hier arbeitet keine Ginger Mauch, weder als Stallmädchen noch als Ausbildungsreiterin.«
Ich nahm das Foto aus der Handtasche und hielt es ihm unter die Nase, wobei ich andeutete – aber nicht
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