Eine Katze kommt selten allein
Dort blieb ich stehen. Drehte mich um. Sah, wie ein älteres Paar in die Droschke stieg. Ginger fuhr los. Sehr gut! dachte ich. Sie würde schon bald zurückkommen und sich ans Ende der Schlange stellen.
Ich lehnte mich gegen die Mauer und wartete. Von meinem Standort aus konnte ich schemenhaft den aufdringlichen Kellner in dem Straßencafe sehen, das ich vorhin verlassen hatte.
Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Keine Spur von Ginger. Eine halbe Stunde. Eine Stunde. Dann streckte das große weiße Pferd seine Nase aus dem Park und kam gemächlich in meine Richtung getrottet. Ungefähr zehn Meter von mir entfernt blieb Ginger stehen und half dem älteren Paar, das offenbar eine Rundfahrt gemacht hatte, aus der Droschke.
Dann stieg sie wieder auf den Bock und ruckte an den Zügeln. Das Pferd trottete los. Doch Ginger lenkte die Droschke nicht ans Ende der Schlange, wie ich es erwartet hatte, sondern fuhr daran vorbei nach Westen, in Richtung Central Park Süd.
Ginger fuhr zurück zum Stall; da war ich sicher. Offenbar hatte sie ihr Tagespensum absolviert. Ich ging los, stets darauf bedacht, die langsam dahinrollende Droschke nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich bog Ginger nach Süden auf den Broadway ab; dann wieder nach Westen, in Richtung Fifty-fifth Street, und schließlich nach Süden in die Eleventh Street, wo sie vor einem langen, niedrigen, heruntergekommenen Stallgebäude hielt, auf dessen Hof Dutzende alter, ausgedienter Droschken standen. Ginger stieg vom Bock und führte das Pferd samt Droschke auf den Hof. Ich beobachtete, wie sie das Pferd ausspannte und in den Stall führte. Dann zog ich mich rasch bis zur nächsten Straßenecke zurück. Dort wartete ich vor einem Taxistand und behielt das Eingangstor zum Stallgelände im Auge.
Nach vierzig Minuten kam Ginger zum Vorschein und ging mit eiligen Schritten zu einem großen, schäbigen Mietshaus an der Forty-ninth Street.
Ich stieg die Treppe zur Tür hinauf und gelangte in einen schmuddeligen, winzigen Eingangsraum. An einer Wand sah ich sechzehn Druckknöpfe aus Plastik; unter jedem Knopf befand sich ein Namensschild. Doch eine Ginger Mauch konnte ich nirgends entdecken. Welchen Namen benutzte sie? Ich wußte es nicht, aber es mußte einer der Namen auf den drei neueren Schildern sein. Sie lauteten: L & H Martinez, Jon Swan und M. Lukas. Ich verließ den Eingangsraum und stieg die Treppe zum Bürgersteig hinunter. Gleich neben dem Haus befand sich eine kleine Bodega. Ich ging hinein, bestellte mir einen Becher schwarzen Kaffee und blickte mißmutig aus dem Fenster, während ich trank.
Worauf wartete ich eigentlich? Vorhin, an der Droschke, war ich der Begegnung mit Ginger ausgewichen, weil ich noch warten wollte. Und nun wartete ich schon wieder… ließ mir Ausreden einfallen. Nein, ich mußte Ginger endlich gegenübertreten. Es war an der Zeit, ihr all die Fragen zu stellen, die sich in meinem Kopf angehäuft hatten: über Harry; über die verdammten Calico-Katzen; über Veronica, die Stallkatze; über Cup of Tea und Ask Me No Questions ; über Gingers Leben auf den Pferderennbahnen und ihr Leben bei den Starobins; darüber, vor wem Ginger flüchtete oder hinter wem sie her war.
Warum wich ich dem Mädchen aus? Wovor hatte ich Angst? Warum fiel es mir so schwer, Ginger gegenüberzutreten? Welchen Sinn hatten alle meine Nachforschungen, wenn ich es nicht fertigbrachte? Was nützte es, Ginger aufgestöbert haben, wenn ich die Sache nicht zu Ende führte?
Der Kaffee war scheußlich – bitter, mit einem seltsamen Beigeschmack, als hätte jemand irgendeinen Sirup hineingegeben. Ich ließ den Plastikbecher in einen Mülleimer fallen. Doch ich blieb, wo ich war, und schaute aus dem Fenster auf die Straße. Ein paar Kinder in Schuluniformen standen vor der Bodega und unterhielten sich. Gedämpft konnte ich ihre Stimmen hören, doch ich verstand nicht, was sie sagten. Dann erst wurde mir klar, daß sie Spanisch sprachen. Ich lachte leise über mich selbst, meine Zögerlichkeit, meine Unschlüssigkeit. Ich bezahlte den Kaffee, verließ die Bodega, ging mit entschlossenen Schritten zum Mietshaus, stieg die Treppe hinauf, gelangte in den schmuddeligen Eingangsraum und drückte den Zeigefinger fest auf den Klingelknopf der oder des M. Lukas. Der Summer, der die innere Eingangstür öffnete, blieb stumm. Vielleicht funktionierte die Schelle nicht mehr. So, wie es hier drinnen aussah, hätte mich das nicht gewundert. Ich drückte gegen die Eingangstür
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