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Eine Katze kommt selten allein

Eine Katze kommt selten allein

Titel: Eine Katze kommt selten allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Adamson
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einer Milchfarm aus Minnesota nach New York gekommen war, und die Uhr war das einzige Erinnerungsstück, das ihm vom Leben auf dem Lande geblieben war. Aber wie konnte eine Uhr ein Erinnerungsstück an ein Leben auf dem Lande sein? Was für ein dummer Gedanke.
    Ich saß seit mehr als einer Stunde vor einem Straßencafe an der Ecke Sixth Avenue und Central Park Süd. Die Droschke mit dem großen weißen Pferd hatte ich nicht aus den Augen gelassen.
    Das Gefährt bewegte sich langsam, aber unaufhaltsam nach Westen, in meine Richtung; denn jedesmal, wenn eine Droschke gemietet wurde, rückten die anderen nach – wie eine Kette von Taxis vor einem Bahnhof.
    Vor mir stand eine Bloody Mary, die ich noch nicht angerührt hatte. Der Kellner war ein lästiger Kerl. Andauernd fragte er mich, ob er noch irgend etwas für mich tun könne. Das Geschäft ging schleppend. Es war noch ein bißchen zu früh im Jahr, um ein Straßencafe zu besuchen.
    Ich hatte keine Zweifel: Die Fahrerin der Droschke mit dem großen weißen Pferd war Ginger Mauch. Sie trug das Haar jetzt kurz geschnitten und braun gefärbt. Aber sie war es. Ich hatte sie bisher dreimal gesehen, wenn auch immer nur ganz kurz: Als ich an dem schrecklichen Mordtag mit dem Taxi zum Anwesen der Starobins gefahren war; dann, als die Polizei uns vernommen hatte, und schließlich am Abend desselben Tages, als ich Ginger weinend hinter der Hütte entdeckt hatte.
    Nein, ich irrte mich nicht. Ich hatte sie gefunden. Die Frau auf dem Kutschbock war Ginger Mauch.
    Rückblickend kam mir plötzlich alles ganz logisch vor. Ginger hatte sich um die alten Kutschpferde der Starobins gekümmert. Insofern lag es auf der Hand, daß sie hier in Manhattan eine Stelle angenommen hatte, bei der sie ebenfalls mit Kutschpferden zu tun hatte.
    Je länger ich vor dem Cafe saß, desto verängstigter wurde ich. Ich hatte keine Furcht vor Ginger; es war irgend etwas anderes. Es hatte mit meiner Angst zu tun, daß mich sogar das Auffinden von Ginger Mauch in eine weitere Sackgasse führen könnte… vor eine Wand… zu dem verflixten Foto einer Calico-Katze.
    Wieder rückte Gingers Droschke einen Platz vor. Mir wurde klar, daß ich nicht mehr lange zögern durfte. Ich legte einen Zehndollarschein auf den Tisch – auf eine Art und Weise, die dem aufdringlichen Kellner zeigte, daß er den Rest als Trinkgeld betrachten durfte. Der Anblick des Geldscheins schien den Kerl zu beruhigen; er trieb sich nicht mehr dauernd in der Nähe meines Tisches herum.
    Was würde geschehen, wenn ich zu lange wartete und jemand anders die Droschke mietete? Der Gedanke versetzte mich in Panik.
    Hastig verließ ich den Tisch, ging bis zur Straßenecke, blieb an einem Fußgängerüberweg stehen und wartete, bis die Ampel auf Grün umsprang.
    Dann überquerte ich die Straße, ging zu den Droschken hinüber und wartete, das Gesicht zur anderen Seite gewandt. Was jetzt? fragte ich mich.
    Dann wurde mir klar, daß Ginger mich in meinem legeren Aufzug bestimmt nicht erkennen würde.
    Ich hatte mir die Kleidung instinktiv, rein zufällig ausgesucht – so zufällig, wie ich Ginger entdeckt hatte: Hätte der Dalmatiner nicht das Kutschpferd angebellt, wäre ich niemals auf das Mädchen aufmerksam geworden. Der Versuch, mich in ›Gingers Rolle zu versetzen‹, hatte mich keinen Schritt weitergebracht. Ich hatte alles nur dem Zufall zu verdanken – und einem Hund, der aus unerfindlichen Gründen ein Droschkenpferd angebellt hatte.
    Riskier es, sagte ich mir.
    Ich gab mir einen Ruck und drehte mich um, ging zehn Schritte, erreichte Gingers Droschke und wollte einsteigen.
    Wie eingefroren verharrte ich vor dem Trittbrett. Ginger hatte sich noch nicht zu mir umgedreht, doch ich hatte plötzlich die Befürchtung, überstürzt zu handeln und alles zu verderben.
    Rasch ging ich weiter. Fünf Schritte. Zehn Schritte. Dann blieb ich stehen. Nein, sagte ich mir. Steig nicht in die Droschke. Nicht jetzt. Es ist ein Fehler. Es ist kindisch. Denn was sollte ich tun, wenn ich in der Droschke saß? Was sollte ich Ginger sagen? Wohin sollte ich mich fahren lassen? Was war, wenn ich mich geirrt hatte? Vielleicht war Ginger gar kein Opfer. Vielleicht war sie nicht die Gejagte, sondern die Jägerin.
    Ich brauchte nicht die Konfrontation, sondern Informationen. Wo Ginger wohnte, zum Beispiel. Mit wem sie verkehrte.
    Ich entfernte mich weiter von der Droschke und ging bis zu der niedrigen Mauer, die sich zwischen dem Park und dem Bürgersteig befand.

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