Eine Kerze für Sarah - und andere Geschichten, die das Herz berühren
verbrachte ich im Schlafanzug und missmutig vor dem Fernsehgerät in meinem Zimmer sitzend. Großmutter aber nahm das alles nicht zur Kenntnis und platzte nach wie vor jeden Morgen wie ein unwillkommener Sonnenstrahl in mein Zimmer.
„Guten Morgen!“, rief sie fröhlich und zog dabei den Rollladen hoch. Ich zog mir nur die Decke über den Kopf und ignorierte sie.
Wenn ich dann aus meinem Zimmer auftauchte, wurde ich von ihr mit einer Reihe wohlgemeinter Fragen bezüglich meines Gesundheitszustandes und meiner Gedanken über die Welt im Allgemeinen bombardiert. Ich antwortete darauf immer nur recht einsilbig, aber irgendwie ließ sie sich davon nicht entmutigen. Tatsächlich verhielt sie sich so, als würde sie mein unzusammenhängendes Gebrummel faszinieren. Sie hörte mir mit einer solchen Ernsthaftigkeit und solchem Interesse zu, als würden wir miteinander ein sehr angeregtes Gespräch führen, in dem ich ihr gerade mein intimstes Geheimnis anvertraut hatte. Und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich mehr als eine einsilbige Antwort gab, klatschte sie in die Hände und lächelte strahlend, als hätte ich ihr ein großes Geschenk gemacht.
Zuerst fragte ich mich, ob sie es einfach nicht verstand. Doch obwohl sie keine gebildete Frau war, spürte ich, dass sie über eine Menge an Lebensweisheit verfügte, die alle Bildung in den Schatten stellte. Denn nachdem sie im Alter von 13 Jahren während der großen Wirtschaftskrise verheiratet worden war, hatte sie alles gelernt, was sie über das Leben wissen musste, indem sie in dieser schwierigen Zeit fünf Kinder großzog, in Restaurants für andere Leute gekocht und schließlich ein eigenes Restaurant aufgemacht hatte.
Ich hätte also nicht überrascht sein dürfen, als sie eines Tages darauf bestand, dass ich von ihr das Brotbacken lernte. Beim Kneten des Teiges stellte ich mich derart ungeschickt an, dass Großmutter es übernahm. Aber sie erlaubte trotzdem nicht, dass ich die Küche verließ, bis der Brotteig anfing zu gehen. Es war während solcher Zeiten, in denen ihre direkte Aufmerksamkeit von mir abgelenkt war und ich den Blumengarten draußen vor dem Küchenfenster betrachtete, dass ich mit ihr zu reden begann. Sie hörte mir dann mit einem solch großen Interesse zu, dass ich mich selbst darüber wundern musste und dadurch manchmal richtig verlegen wurde.
Langsam wurde mir klar, dass das Interesse meiner Großmutter an mir nicht abnahm, und so begann ich, mich ihr mehr und mehr zu öffnen. Insgeheim freute ich mich sogar auf unsere Gespräche.
Wenn ich dann einmal zu reden angefangen hatte, konnte ich kaum wieder aufhören. Nach und nach begann ich dann auch regelmäßig die Schule zu besuchen und eilte nach Unterrichtsschluss jeden Nachmittag auf direktem Wege nach Hause. Sie saß dann immer in ihrem Lieblingssessel, lächelte mich an und wartete darauf, einen detaillierten Bericht meiner Erlebnisse zu hören.
Eines Tages stürmte ich durch die Tür zu meiner Großmutter herein und verkündete: „Ich wurde zur Redakteurin unserer Schülerzeitung ernannt!“
Verblüfft schlug sie sich mit der Hand auf den Mund. Tief gerührt nahm sie meine beiden Hände in die ihren und drückte sie fest. Ich sah ihr in die funkelnden Augen.
„Ich liebe dich sehr und ich bin so stolz auf dich!“, sagte sie.
Ihre Worte trafen mich mit solcher Wucht, dass ich darauf keine Antwort fand. Diese Worte bedeuteten mir mehr als eintausendmal: „Ich liebe dich.“ Ich wusste, ihre Liebe war nicht an Bedingungen geknüpft, aber ihre Freundschaft und ihren Stolz hatte ich mir verdienen müssen. Dass ich beides von dieser unglaublichen Frau bekam, ließ mich überlegen, ob ich vielleicht doch liebenswert war. Und so weckte sie in mir den Wunsch, mein eigenes Potenzial zu entdecken. Daraufhin hatte ich auch keine Angst mehr, anderen meine wunden Punkte zu zeigen.
An diesem Tag beschloss ich zu versuchen, so zu leben wie sie – voller Energie und ohne mich zu verstellen. Plötzlich überkam mich der Wunsch, die Welt zu erkunden, dazu meinen Verstand und das Herz anderer, um genauso frei und bedingungslos lieben zu können wie sie. Und ich erkannte, dass ich sie liebte, nicht weil sie meine Großmutter war, sondern weil sie ein wunderbarer Mensch war, der mir beigebracht hatte, was sie über den Umgang mit Menschen wusste.
Meine Großmutter starb im Frühling, knapp zwei Jahre, nachdem ich bei ihr eingezogen war und zwei Monate, bevor ich meinen Abschluss an der
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