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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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existiert doch jener sagenhafte Ort nicht mehr, wo Nellie Melba und Diana Cooper, Alfred Hitchcock und die Herzogin von Argyll, Marilyn Monroe, Paul Mc-Cartney und alle anderen aus der Glitzerwelt ein und aus gegangen sind.
    Ich war schon eine ganze Weile nicht mehr im Grill gewesen, und mir fiel auf, dass sich bereits einiges verändert hatte. Anfang der Sechzigerjahre hatte ich mich hier regelmäßig mit einem Cousin meines Vaters getroffen, einem Mann von zweifelhaftem Ruf, der einen Narren an mir gefressen hatte. Patrick betrachtete das Restaurant gewissermaßen als seinen Privatclub und führte dort seine neuesten Flammen hin, um in Austern und falschen Liebesschwüren zu schwelgen – bedauernswert, diese Mädchen. Natürlich war Patrick für einen unansehnlichen, pickligen Teenager wie mich ein hinreißendes Rollenvorbild. Er hatte die Armee mit vierzig verlassen und lebte in den Tag hinein, das heißt, er genoss das Leben ohne jeden Wunsch, sich zu binden und Verantwortung zu übernehmen. Er sah blendend aus und besaß einen umwerfenden Charme, und so schlug er sich immer ganz gut durch. Meine Mutter vergötterte ihn, obwohl mein Vater ihn ablehnte und immer nur böse knurrte, wie man säe, so würde man ernten. Letzten Endes behielt mein Vater recht, weil besagter Cousin
nach Jahren eines vergnügungssüchtigen, verantwortungslosen Lebens einen Schlaganfall erlitt und früh und einsam starb.
    Dennoch war Patrick für mich eine Quelle der Inspiration gewesen, denn er beachtete weder Regeln noch Grenzen, und nach der Erziehung durch einen absolut rechtschaffenen und ziemlich strengen Vater gewährte er mir einen Blick in ein Paradies, in dem ich mich frei entfalten konnte. Ich erinnere mich an einen Restaurantbesuch, als es Patrick nicht gelang, die Aufmerksamkeit des Kellners auf sich zu ziehen. Da ergriff er einen der Ständer mit Untersetzern, Speisekarten, Salz und Pfeffer und schleuderte ihn durch den ganzen Raum. Er landete mit einem ohrenbetäubenden Krachen, und in dem voll besetzten Lokal erstarb jedes Geplauder. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Doch anstatt beschimpft oder des Lokals verwiesen zu werden, wie ich es erwartet hatte, erreichte Patrick damit tatsächlich, dass er umgehend und äußerst zuvorkommend bedient wurde. Der Zwischenfall enthielt eine subversive Lektion, die meinem Vater nicht gefallen hätte.
    Als ich den Savoy Grill betrat, dachte ich kurz an Patrick, wie er von dieser Stelle aus den Raum mit einem trägen Lächeln danach absuchte, ob sich an einem der Tische eine attraktive Möglichkeit bot. Eines der seltsamsten Dinge am Älterwerden ist die stets anwachsende Schar der Toten, die uns über die Schulter schauen und immer wieder zwischen unsere Gedanken springen. Ein Bild, ein Laden, eine Straße, eine Uhr, die wir von jemandem geschenkt bekommen haben, ein Schmuckstück von dieser toten Tante oder ein Sessel von jenem verstorbenen Onkel, und plötzlich leben diese Menschen eine Sekunde lang wieder auf und flüstern uns ins Ohr. Irgendwo lehrt eine Religion, dass wir alle zweimal sterben: einmal auf die übliche Weise und ein zweites Mal, wenn der letzte Mensch, der uns gekannt hat, ebenfalls stirbt und mit ihm jede Erinnerung an uns erlischt. In diesem Sinne widmete ich meinem alten Cousin an jenem Tag ein paar fröhliche Gedanken.
    Kieran saß bei meiner Ankunft bereits am Tisch. Wir winkten uns schon von Weitem zu und schüttelten uns zur Begrüßung herzlich die Hand.

    Wenn wir den Vorgang des Alterns nicht Tag für Tag miterleben, versetzt er uns unweigerlich einen Schock. Der Kieran, den ich gekannt hatte, war ein rotgesichtiger Prolet mit gefärbten Haaren und künstlicher Bräune gewesen; mit ihm hatte der gediegene ältere Geschäftsmann, der mir nun gegenübersaß, kaum noch Ähnlichkeit. Natürlich war sein Gesicht stark gealtert, da er schon auf die siebzig zuging, doch seine Züge wirkten feiner als in seiner Jugend, nicht mehr so fleckig und aufgedunsen, dazu unendlich souveräner. Die auffällige Röte der Wangen war verblasst, die künstliche Haarfarbe ebenso verschwunden wie die echte, geblieben war fülliges Haar in einem vornehmen Grau, mit dem er ohne Weiteres für ein teures Haarpflegemittel hätte werben können, der Glückspilz. Von den Schweinsäuglein, an die ich mich erinnerte, konnte keine Rede mehr sein; Kieran hatte für jemanden, der in der Welt der Immobilienhaie solche Beute gemacht hatte, unerwartet gütige Augen.
    »Sehr nett von

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