Eine Klasse für sich
Sechzigerjahre, denen im nächsten Jahrzehnt so viele meiner Zeitgenossen aufsitzen sollten, nie wieder so hautnah begegnet. Es stimmte, dass sich die Welt veränderte. Die Nachkriegsdepression war überwunden, die Wirtschaft boomte, und viele alte Werte wurden begraben. Aber sie würden wiederauferstehen,
die meisten jedenfalls. Vielleicht nicht der Frack oder die Sommerfrische in Frinton, aber alles, was Ehrgeiz, Raffgier, Habsucht und Machtgelüste anheizt. Etwa fünfzehn Jahre lang regierte das Chaos, dann erlebten die meisten der alten Regeln eine Renaissance. Und sie gelten bis heute; in den Häusern in Belgravia sitzen reichere Leute als je zuvor. Aber das waren nicht die Veränderungen, die Joanna und ihresgleichen erwarteten.
Sie glaubten, nein, sie waren sicher , dass eine Welt kommen würde, in der Geld jegliche Bedeutung verlieren, in der Nationalismus, Kriege und Religionen verschwinden, in der sich Klassen, Hierarchien und alle unwürdigen Unterscheidungen zwischen den Menschen in Luft auflösen, in der nichts herrschen würde als Liebe. Diese Überzeugung, diese Philosophie prägte meine Generation so stark, dass viele immer noch nicht die Kraft aufbringen, sie abzuschütteln. Es ist leicht, sich über diese naiven Vorstellungen lustig zu machen, wenn sie mit zunehmender Verbitterung von alternden Ministern und Sängern kurz vor der Rente geäußert werden. Ich lache tatsächlich über diese Narren, die offenbar in ihrem ganzen Leben nichts dazugelernt haben. Dennoch gestehe ich gern, dass mich die Worte dieser anmutigen, klugen, liebenswürdigen jungen Frau ungemein bewegten, die, beseelt von den besten Absichten, alles auf Zuversicht setzte.
Wie vorauszusehen brachte jede Zeitung am nächsten Tag ein Foto von Joanna Langley, die ihre weiße Spitzenhose fallen ließ, um sich in Ascot Zutritt zu verschaffen. Ich glaube mich zu erinnern, dass entweder die Mail oder der Express eine ganze Fotoserie abdruckte, sozusagen einen Striptease-Cartoon. Wir alle machten Witze darüber, nahmen Joanna noch weniger ernst als zuvor und traten Mrs. Langleys verstiegene Erwartungen mit Füßen. Aber das spielte bald keine Rolle mehr. Ich habe nie erfahren, ob Joanna mit ihrer Mutter über ihre Zweifel zu reden versucht hatte. Wenn ja, hatte sie nicht viel erreicht, denn wenig später erreichte uns die Einladung zum Ball, den »Mrs. Alfred Langley« zu Ehren ihrer Tochter gab. Die Karte war so steif, als wäre sie direkt aus abgelagertem Eichenholz geschnitten, der Prägedruck so erhaben, dass man sich die Zehen daran hätte stoßen können. Vermutlich sagten die meisten zu. Mit der skrupellosen
Logik des Engländers gingen wir davon aus, dass für die Vergnügungen des Abends eine Menge Geld ausgegeben würde und der Ball es demnach wert wäre, dass wir ihn mit unserer Anwesenheit beehrten, egal, was wir von der Tochter hielten. Ich persönlich mochte sie natürlich und gestehe freimütig, dass ich mich darauf freute. Ich kann freilich nur Vermutungen darüber anstellen, was uns Mrs. Langley bieten wollte. Es wäre sicher ein unvergesslicher Abend geworden.
Aber es sollte anders kommen. An einem sonnigen Tag Anfang Juli schlugen wir die Zeitung auf und lasen die Schlagzeile: ERBIN BRENNT DURCH! Der Artikel darunter klärte uns auf, dass Joanna, einziges Kind des »Reisekönigs und Multimillionärs Alfred Langley«, sich mit ihrem Modeschöpfer Kieran de Yong aus dem Staub gemacht hatte. Das Paar hatte noch nicht geheiratet, eine zusätzliche Pikanterie zur Freude der damaligen Journalisten, heute kaum der Erwähnung wert; man vermutete, »die beiden lebten gemeinsam in der Wohnung von Mr. de Yong in Mayfair«. Dieses Detail versetzte mir nach Joannas Bemerkung in Ascot einen wehmütigen Stich.
Zwei Tage danach traf eine zweite Karte von Mrs. Langley ein. Sie enthielt die nüchterne, schnörkellose Information: »Der für Miss Joanna Langley geplante Ball findet nicht statt.«
10
Zu meiner Überraschung und entgegen allem, was der spöttische Snob in mir erwartet hatte, war Kieran de Yong in den Jahren seit unserer letzten Begegnung ungeheuer aktiv gewesen. Meinem Informationsblatt entnahm ich, was er alles angepackt hatte – sein Tätigkeitsdrang war fast beängstigend. Als er mit »Joanna, Tochter von Alfred Langley, aus Badger‘s Wood, Godalming , Surrey« durchbrannte, war er achtundzwanzig Jahre alt und damit neun bis zehn Jahre älter als wir. Im folgenden Jahr heirateten die beiden. Bis Ende der
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