Eine Klasse für sich
Frage hielt ihn eine Weile beschäftigt. Das Flurlicht fiel durch die offene Tür und vertiefte die Furchen in seinem von Krankheit gezeichneten Gesicht. Vermutlich stellte er sich diese Frage selbst tausendmal am Tag. »Ich weiß es nicht. Nicht bis zur letzten Gewissheit. Vielleicht konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass jemand glaubte, er könne Ansprüche an mich stellen. Ich wusste nicht, wie ich die Frau und das Kind suchen und identifizieren sollte, ohne ihnen Macht über mich einzuräumen. Und im Grunde wollte ich nie ein Kind. Wahrscheinlich bin ich deshalb auf die Bitten meiner Frau nicht eingegangen. Ein Kind gehörte nicht zu meiner Lebensplanung. Ich glaube, ich bin einfach kein Vatertyp.«
»Aber jetzt bist du bereit, diesem Unbekannten so viel Geld zu geben, dass er eine kleine Industriestadt aus dem Boden stampfen könnte. Warum? Was ist jetzt anders?«
Damians knochige Schultern hoben und senkten sich mit einem kleinen Seufzer. Das Sakko, das sicher einmal tadellos gesessen hatte, schlotterte um seinen eingefallenen Oberkörper. »Ich sterbe bald und bin nicht gläubig«, sagte er einfach. »Das ist meine einzige Chance auf Unsterblichkeit.«
Damit war er fort, und ich hatte Muße, mich ungestört seiner Bibliothek zu widmen.
2
Ich war nie ein guter Menschenkenner. Mein erster Eindruck ist fast unweigerlich falsch. Aber wie es nun einmal in der Natur des Menschen liegt, brauchte ich viele Jahre, um mir das einzugestehen. In jungen Jahren bildete ich mir ein, ich könne selbstverständlich die Spreu vom Weizen trennen. Damian Baxters Urteile waren hingegen äußerst treffsicher. Er begriff sofort, dass ich ein Einfaltspinsel war.
Der Zufall wollte es, dass wir beide im September 1967 nach Cambridge gingen. Aber wir studierten an unterschiedlichen Colleges und bewegten uns in unterschiedlichen Kreisen. So kreuzten sich unsere Pfade erst Anfang Mai, zu Beginn des Sommertrimesters, auf einer Party im Innenhof meines Colleges. Zweifellos spielte ich mich dort ziemlich auf: Mit meinen neunzehn Jahren steckte ich mitten in jener berauschenden Lebensphase, in der man plötzlich entdeckt, dass die Welt viel komplexer ist als angenommen und eine enorme Bandbreite an Menschen und Möglichkeiten bereithält, viel mehr als die enge Welt von Internat und heimischer Grafschaft, die alles war, was ich bisher im Lauf meiner »privilegierten« Erziehung kennengelernt hatte. Obwohl durchaus kein Einzelgänger, war ich in dieser Gesellschaft nicht sonderlich beachtet worden. Ich stand im Schatten gut aussehender, geistreicher Cousins, und da ich dies weder mit einer blendenden Erscheinung noch mit Charisma wettmachen konnte, hinterließ ich einfach nicht viel Eindruck.
Meine Mutter erkannte mein Dilemma, das sie jahrelang stumm, aber mit großer Anteilnahme verfolgte, ohne mir viel beistehen zu können. Aber als sie sah, wie mit der Zulassung zur Universität mein Selbstvertrauen aufkeimte, beschloss sie, meinem Unternehmungsgeist weiter auf die Sprünge zu helfen, und verschaffte mir Einladungen bei Londoner Freunden mit Töchtern im passenden Alter. Manchen
mag es verwundern, dass ich mich ihrer Initiative fügte, aber so begann ich mir einen eigenen Kreis aufzubauen, in dem ich keinen niederschmetternden Vergleichen mehr standhalten musste, sondern mich bis zu einem gewissen Maß neu erfinden konnte.
Der heutigen Jugend käme es merkwürdig vor, dass ich mich so stark von meinen Eltern lenken ließ, aber vor vierzig Jahren war alles anders. Man hatte schon einmal keine Angst vor dem Älterwerden. Fernsehmoderatoren mittleren Alters mussten niemandem vorheucheln, sie teilten Geschmack und Vorurteile ihrer jugendlichen Zuschauer, um sich bei diesen beliebt zu machen. Natürlich trennten uns politische Ansichten, Klassenzugehörigkeit und in geringerem Maß als heute auch die Religion, aber die entscheidende Kluft verläuft heute zwischen der Generation von 1968 – den Älteren – und der Generation vier Jahrzehnte später – den Jungen.
Damals jedoch wurde in meinen Kreisen das Leben der Jugendlichen noch ungewöhnlich stark von den Eltern bestimmt. Sie regelten untereinander, wann und in welchen Häusern während der Schulferien Feste veranstaltet wurden, welche Schulfächer die Kinder wählen, welchen Beruf sie nach dem Studium ergreifen sollten, und vor allem, mit welchen Freunden sie verkehrten. Das lief meist nicht autoritär ab, aber wenn unsere Eltern ein Veto einlegten, protestierten wir
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