Eine Klasse für sich
den 1968 zum »Serena-Jahr« wurde. Schon im Frühling, ganz zu Anfang der Saison, schätzte ich mich glücklich, wenn ich mit ihr plaudern durfte.
Wie ich schon sagte, gehörte sie der alten, privilegierten Schicht an. Zu jener Zeit war selbst erworbener Reichtum viel bescheidener, als er es Jahre später werden würde. Die »wirklich Reichen« waren jene, die dreißig Jahre zuvor noch reicher gewesen waren.
Viele der alten Familien waren in den Nachkriegsjahren bankrott gegangen. Über kurz oder lang wurden die meisten von der oberen Mittelschicht geschluckt, ihren verlorenen Status sollten sie nie wiedererlangen. Selbst diejenigen, die die Fahne hochgehalten hatten, die immer noch in eigenen Häusern wohnten und eigene Fasanen jagten, huldigten oft genug einem düsteren Après moi le déluge . Aus den Schlosstoren tuckerten regelmäßig Lastwagen mit kostbaren, über Jahrhunderte hinweg angesammelten Schätzen, die in Londoner Auktionshäusern unter den Hammer kamen, damit die Familie
einen weiteren Winter lang heizen und sich standesgemäß kleiden konnte.
Serena bekam von diesen Zwängen nichts zu spüren. Sie und die anderen Greshams gehörten zu den sehr wenigen Auserwählten, die so weiterleben konnten wie eh und je. Vielleicht gab es nur noch zwei Diener, wo es einmal sechs gegeben hatte. Vielleicht musste der Koch ohne Küchenhilfe zurechtkommen, und Serena und ihre Schwestern ließen sich vermutlich nicht von einer Zofe ankleiden. Doch sonst hatte sich für eine Gresham seit 1880 nicht viel geändert, abgesehen von der Länge der Rocksäume und der Erlaubnis, unbegleitet im Restaurant zu speisen.
Serenas Vater war der sechste Earl von Claremont, heiter und charmant wie sein Titel, niemals mürrisch, weil ihm nie Widerspruch begegnete, sondern wie seine Tochter sehr umgänglich. Auch er lebte wie in rosigen Nebel gehüllt, doch anders als Serena, die liebliche, dem Schäfer entschlüpfte Najade, war er kein mythisches Geschöpf. Seine Abgehobenheit mutete eher weltfremd an, von der harten Realität hatte er wenig Ahnung. Mit der Liebe taten sich die Greshams nicht so leicht, schon gar nicht mit »Verliebtheit«, die hätte viel zu viel lästige Störung bedeutet, Grässlichkeiten wie Appetitverlust oder Schlaflosigkeit. Aber dafür hatte auch Hass oder Streit in der Familie keinen Platz.
Sie hatten also an ihrem Schicksal nicht schwer zu tragen. Durch kluge Investitionen und weitblickende Heiraten hatte sich die Familie auf der stürmischen See des zwanzigsten Jahrhunderts gut behauptet, man besaß große Ländereien in Yorkshire, ein Schloss in Irland und ein Haus in der Londoner »Allee der Millionäre«, der Privatstraße parallel zum Kensington-Palast, was damals von großer Bedeutung war. Heute scheinen diese herrschaftlichen Gebäude wieder in Privatbesitz, aufgekauft von östlichen Potentaten und Fußballclubbesitzern, doch damals wurden die meisten der Reihe nach in Botschaften umgewandelt und kaum noch von Familien bewohnt. Natürlich mit einer Ausnahme: das Haus der Claremonts, Nummer 37, im wunderhübschen Zuckerbäckerstil aus der Zeit um 1830, vielleicht eine Spur zu nahe an Notting Hill.
Als genügte das alles noch nicht, war Serena mit ihrem üppigen, kupferfarbenen Haar und dem durchscheinenden Präraffaeliten-Teint auch noch sehr schön. Ihr Äußeres unterstrich ihre heitere Gelassenheit und echte Anmut, eher seltene Eigenschaften bei einem achtzehnjährigen Mädchen, die auf Serena aber wirklich zutrafen. Ich weiß nicht mehr genau, worüber wir uns unterhielten, vielleicht über Kunst, vielleicht auch über Geschichte. Sie neigte nicht zum Klatsch, was weniger an ihrer Liebenswürdigkeit lag als an ihrem mangelnden Interesse am Leben anderer Leute. Auch über Karrierepläne haben wir sicher nicht diskutiert, so etwas war für Mädchen ihresgleichen nicht vorgesehen. Allerdings langweilte ich mich nie in ihrer Gegenwart, nicht zuletzt deshalb, weil ich, schon lange bevor ich es mir eingestand, in sie verliebt gewesen sein muss. Doch die Hoffnungslosigkeit der Liebe zu einer solchen Göttin lag auf der Hand, und der unsichere junge Mann, der ich damals war, scheute die sichere Abfuhr. Da war ich nicht der Einzige.
»Kann ich mich mit euch unterhalten?«, fragte eine tiefe, sonore Stimme just in dem Moment, als ich Anlauf zu einer Pointe nahm. Wir blickten hoch, ins Gesicht von Damian Baxter. Und freuten uns auch noch darüber, heute für mich das Merkwürdigste an dem Ganzen. »Ich
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