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Eine Klasse für sich

Eine Klasse für sich

Titel: Eine Klasse für sich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Fellowes
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Entsetzen sahen wir zu wie gelähmt, keiner kam auf die Idee, ihn rettend aufzufangen. Und so schlug er der Länge nach aufs Frühstücksbüfett, das er umriss und dabei sich selbst und alle Umstehenden mit heißen Tellern, Würstchen, Saftkrügen, Speck, Toast, Warmhalteplatten, Rührei, Senf, Besteck und Gott weiß was noch allem bombardierte. Das Krachen gemahnte an den Fall von Troja, dröhnte durch die Hotelkorridore, erschreckte die Pferde, erweckte die Toten. Dann folgte Grabesstille. Wir standen da wie ein Rudel Rehe im Scheinwerferlicht, betäubt, verwirrt, hypnotisiert, und starrten auf den zu Boden gegangenen, blutüberströmten und mit Frühstück garnierten Viscount. Sogar Dagmar stand stumm und starr wie eine Statue.
    Da ergriff Damian mit einer jener Gesten, deretwegen ich ihm öfter verzieh, als ich es hätte tun sollen, die schlaff herabhängende Hand der Großherzogin, deren Blicke über die Ruinen des Balls schweiften, der sie ein Großteil ihres Jahreseinkommens gekostet hatte. »Verzeihen Sie, dass ich ein solches Durcheinander angerichtet habe, Ma’am«, sagte er und hob ihre widerstandslose Hand mit unvergleichlicher Eleganz an seine Lippen. »Und ich danke Ihnen vielmals für diesen Abend, der bis zu diesem Augenblick absolut hinreißend war.« Damit gab er ihre Finger wieder frei, verbeugte sich knapp wie ein erfahrener Höfling und schlenderte hinaus.
    Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, dass sich die Geschichte wie ein Lauffeuer in ganz London verbreitete und Damian bald mit Einladungen zu jedem größeren Ereignis der Saison überschüttet wurde, mit Ausnahme des Balls, den Lady Belton für Andrews Schwester Annabella gab. Die Einladungen verdankte er nicht etwa den Müttern, die mehr Angst hatten denn je, Damian Baxter könnte eine ihrer kostbaren Töchter einfangen.
    Nein, wer eisern darauf beharrte, waren die Mädchen selbst.

6
    Die Großherzogin hatte recht daran getan, die Investition nicht zu scheuen, auch wenn die Dinge nicht ganz den gewünschten Lauf nahmen. 1968 besaß die Familie gerade noch genug Geld und Status, dass Dagmar einen großen – oder mittelgroßen – Fisch hätte an Land ziehen können. Dies gelang nicht, was ich erst darauf zurückführte, dass sie ihre Ziele zu hoch gesteckt und damit die Chance auf eine einigermaßen gute Partie vertan hatte. Später entdeckte ich, dass meine Analyse nicht ganz zutraf; dennoch stimmte wohl, dass Dagmar wie so viele Menschen von Rang und Vermögen mit unrealistischen Erwartungen aufgewachsen war. So ahnte sie nicht, wie farblos sie wirklich war, denn sie konnte damals stets ein Häufchen um sich scharen, das ihre Schüchternheit vor ihr selbst verbarg, und schien nicht zu begreifen, dass sie die Gegebenheiten besser nutzen müsste. Die Großherzogin wusste das alles und versuchte Dagmar freundlichst anzuspornen, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, bevor es zu spät wäre. Aber wie es meistens so ist, stieß die Mutter auf taube Ohren, wenn es um Dinge ging, die die Tochter nicht hören wollte.
    Das Problem lag teilweise an Dagmars seltsamer Unfähigkeit zu flirten. Mit einem Mann konfrontiert, konnte sie nur nervös kichern oder völlig verstummen, während sie ihren Gesprächspartner aus riesigen, weit aufgerissenen, tränenschimmernden Augen anstarrte. Er strampelte sich unterdessen verzweifelt ab auf der Suche nach einem Gesprächsthema, das ihr ein paar Worte entlocken würde. Es gab keines. Schließlich weckte diese Hilflosigkeit meinen Beschützerinstinkt; zwar hatte ich nie Absichten auf Dagmar, fasste aber eine Abneigung gegen alle, die sich über sie lustig machten oder, wie ich es einmal mitbekam, ihr trauriges kleines Lachen nachäfften. Einmal musste ich sie vom Annabel’s nach Hause fahren, als sich der Mann,
mit dem sie verabredet war, entschuldigte, um die Toilette aufzusuchen, stattdessen aber die Treppe zur Straße hochrannte und in ein Taxi sprang. Sie weinte den ganzen Heimweg, und natürlich musste ich sie danach ein bisschen trösten.
    Um einen verbreiteten Irrtum auszuräumen, will ich darauf hinweisen, dass die Londoner Saison anders als in früheren Zeiten kein Heiratsmarkt mehr war. Die jungen Leute sollten vielmehr in ein passendes Umfeld eingeführt werden, in dem sie von nun an leben, zu gegebener Zeit Freunde und nach ein paar Jahren auch einen Ehepartner finden sollten. Wenige Mütter wollten ihre Söhne und Töchter vor Mitte zwanzig verheiratet sehen, aber bei Dagmar lag der Fall anders,

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