Eine Klasse für sich
mit spitzen Lippen die Wangen des anderen an, dann führte sie mich in den Empfangssalon, einen hellen, exquisiten Raum, der auch wieder dieses Künstliche ausstrahlte. Edle Chintzstoffe und Antiquitäten in perfekter Harmonie, diesmal achtzehntes und neunzehntes Jahrhundert, lauter ausgesuchte Stücke, aber kein lebendiges Ensemble. An den Wänden setzte sich die glanzvolle europäische Adelsparade fort.
Ich deutete auf zwei Bilder. »Ich erinnere mich nicht, dass ihr die auch schon am Trevor Square hattet. Oder waren sie eingelagert?« Dass sie nicht von Squire William de Holman stammen konnten, verstand sich von selbst.
Sie schüttelte den Kopf. »Weder noch.« Endlich kam die alte Dagmar wieder zum Vorschein. Der feuchte, halb geöffnete Mund hatte sich ein wenig gefestigt, aber die Stimme hatte immer noch diesen leisen, tränenseligen Unterton, ein schwaches, trauriges Kratzen der Stimmbänder. »William hat in allen Aktionshäusern Agenten, die ihn benachrichtigen, sobald ein Gemälde mit dem entferntesten Bezug zu meiner Familie hereinkommt. Dann bietet er.« Sie ließ sich nicht darüber aus, was dies über ihren Mann verriet. Auch ich enthielt mich jeden Kommentars.
»Wo ist er denn?«
»Er wird gleich da sein. Er sucht den Wein zum Lunch aus.«
Sie öffnete einen großen, geschnitzten Rokoko-Schrank in der
Ecke, der zu meiner Verblüffung neben Flaschenvorräten auch ein kleines Spülbecken verbarg, und goss mir einen Drink ein. Wir unterhielten uns. Dagmar war über mein Leben besser auf dem Laufenden als erwartet; sie kam auf einen meiner Romane zu sprechen, den die Öffentlichkeit kaum wahrgenommen hatte, und bemerkte sicher, wie geschmeichelt ich mich fühlte. Meinen Dank erwiderte sie mit einem Lächeln. »Ich halte mich gern über meine Bekannten von damals auf dem Laufenden.«
»Lieber, als weiter mit ihnen Umgang zu pflegen?«
Sie zuckte leicht mit den Achseln. »Freundschaften beruhen auf gemeinsamen Erfahrungen. Ich weiß nicht, was wir alle jetzt noch gemeinsam hätten. William ist nicht sehr … erpicht darauf, an diesen Lebensabschnitt erinnert zu werden. Er zieht die späteren Zeiten vor.« Was mich nicht überraschte, an seiner Stelle ginge es mir genauso. »Siehst du noch jemanden von früher?« Ich erzählte ihr, dass ich Lucy besucht hatte. »Du liebe Zeit! Wie geht’s ihr denn?«
»Ganz gut. Ihr Mann hat sich wieder in ein neues Geschäftsprojekt gestürzt. Ich weiß nicht, wie gut das läuft.«
Sie nickte. »Philip Rawnsley-Price. Der Mann, vor dem wir alle auf der Flucht waren, und ausgerechnet Lucy Dalton bleibt an ihm kleben. Wie seltsam. Er hat sich wohl ziemlich verändert.«
»Für meinen Geschmack nicht genug«, sagte ich wenig edelmütig, und wir lachten. »Ich habe vor Kurzem auch Damian Baxter gesehen. Erinnerst du dich an ihn?«
Diesmal entfuhr ihr das für sie so typische laute Kichern – das war nun wieder die alte Dagmar, wie sie leibte und lebte. »Ob ich mich an ihn erinnere? Wie könnte ich ihn vergessen, wo doch unsere Namen unauflöslich miteinander verbunden sind?« Ich staunte, meine Gedanken galoppierten gleich ganz bestimmte Bahnen entlang. War mir eine Romanze entgangen, von der alle anderen gewusst hatten?
»Tatsächlich?«
Sie sah mich scharf an, offensichtlich verblüfft über meine Begriffsstutzigkeit. »Erinnerst du dich nicht an meinen Ball? Als er Andrew Summersby k. o. geschlagen hat? Was den Spaß um ungefähr zweitausend Pfund verteuert hat? Damals eine Menge Geld, kann ich dir
versichern.« Aber sie schien bei der Erinnerung keineswegs verärgert. Ganz im Gegenteil.
»Selbstverständlich erinnere ich mich. Und auch daran, wie du behauptet hast, du hättest ihn eingeladen. Dafür hätte ich dich küssen können.«
Sie nickte. »Natürlich ein hoffnungsloser Versuch.« Beim Gedanken an ihre hochherzige Tat lächelte sie wie ein frecher kleiner Kobold. »Meine Mutter lebte in einer Fantasiewelt. Sie dachte, wenn sie einem einzigen jungen Mann, der sich den ganzen Abend tadellos benommen hatte, ohne Einladung zu bleiben erlaubte, käme das dem Untergang des Abendlandes gleich. Mit ihrer Unnachgiebigkeit hat sie uns bloß lächerlich gemacht.«
»Du warst alles andere als lächerlich.«
Sie errötete vor Freude. »Wirklich? Ich hoffe es.«
»Wie geht es deiner Mutter? Sie hat mich immer furchtbar eingeschüchtert. «
»Das würde ihr jetzt nicht mehr gelingen.«
»Dann lebt sie also noch?«
»Ja. Sie lebt noch. Wenn du nach dem Lunch
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