Eine Klasse für sich
Zeit für einen kleinen Spaziergang hast, können wir vielleicht kurz bei ihr vorbeischauen. «
Ich nickte. »Gerne.« Unser Gespräch stockte, und ich hörte das vertraute Brummgeräusch, mit dem eine verirrte Biene immer wieder gegen ein Fenster prallte. Nicht zum ersten Mal fiel mir auf, wie seltsam solche Gespräche mit Leuten waren, die man früher einmal gut gekannt hat. »Sie ist sicher zufrieden, wie sich alles bei dir entwickelt hat.« Das war aufrichtig gemeint. Die Großherzogin hatte sich so entschlossen um eine glanzvolle Partie für ihre Tochter bemüht, dass William Holman, so notwendig er damals war, eine herbe Enttäuschung für sie gewesen sein musste. Weder sie noch wir ahnten, dass er Dagmar später einen Lebensstil bieten würde, der alles weit übertraf, was die 1968 verfügbaren Titelerben hätten versprechen können.
Sie sah mich nachdenklich an. »Ja und nein«, murmelte sie.
Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, kam William herein und
drückte mir die Hand. Er sah besser aus, als ich es in Erinnerung hatte, hochgewachsen und sehr schlank, mit grau meliertem Haar, das ihn irgendwie blond und jugendlich wirken ließen. »Wie schön, dich zu sehen«, sagte er, und mir fiel etwas Ungewöhnliches auf: Stärker als sein Gesicht hatte sich seine Stimme verändert, die nun gewichtig klang, als spräche er vor dem Aufsichtsrat eines Unternehmens oder im Gemeindesaal vor dankbaren Pächtern. »Wie geht’s?« Wir schüttelten uns die Hand und tauschten die üblichen Floskeln zum Thema »Lange nicht gesehen« aus, während Dagmar ihm einen Drink holte. Mit einem kritischen Blick nahm er das Glas entgegen. »Keine Zitrone?«
»Sieht so aus.«
»Warum nicht?« Wenn man bedenkt, dass ich trotz unserer gegenseitigen Beteuerungen großer Wiedersehensfreude im Grunde ein Fremder für ihn war, schlug William seiner Frau gegenüber einen unangenehm strengen Ton an.
»Die haben sicher vergessen, welche zu kaufen.« Dagmar sprach, als wäre sie mit einem potenziellen Gewalttäter in eine Zelle gesperrt und versuche, die Aufmerksamkeit der Wächter auf sich zu ziehen.
»Die? Wer sind die ? Du meinst wohl, du . Du hast vergessen anzuordnen, dass Zitronen gekauft werden.« Er seufzte müde über die deprimierende Unzulänglichkeit seiner Frau. »Ach, was soll’s.« Er nippte an seinem Drink, rümpfte angewidert die Nase und wandte sich wieder an mich. »Na, was führt dich zu uns?«
Da ich ihm den wahren Grund natürlich nicht nennen konnte, erläuterte ich ihm das Wohltätigkeitsprojekt. Er setzte eine gekünstelt betroffene Miene auf wie viele, wenn sie vom harten Schicksal anderer hören. »Das ist natürlich eine wunderbare Sache, wie ich zu Dagmar sagte, als ich zum ersten Mal davon erfahren habe, und ich bewundere dich grenzenlos, dass du dich so engagierst…«
»Aber?«
»Aber ich glaube nicht, dass das etwas für uns ist.« Er hielt inne und nahm wohl an, ich würde ihm sofort mein volles Verständnis versichern. Aber ich wartete wortlos, bis er sich unwohl genug fühlte, um seine Ablehnung näher zu begründen. »Ich möchte nicht, dass
sich Dagmar mit der Vergangenheit belastet. Natürlich hat ihre Familie eine sehr interessante Rolle gespielt, aber damit ist es längst vorbei. Dagmar ist jetzt Lady Holman. Sie hat es nicht nötig, mit einem Pseudotitel von gestern hausieren zu gehen, wenn sie mit einem höchst ehrenvollen Titel von heute dasteht. So wichtig solche Dinge auch sein mögen …« – er setzte ein Lächeln auf, das seine Augen nicht erreichte – »… scheinen sie mir für Dagmar eher ein Schritt zurück. «
Ich wandte mich an Dagmar, um ihre Meinung zu hören, aber sie blieb stumm. »Von ›pseudo‹ kann man bei Dagmars Titel nicht sprechen«, sagte ich. »Sie ist Mitglied eines Herrscherhauses.«
»Eines Exherrscherhauses.«
»Die Familie saß bis drei Jahre vor ihrer Geburt auf dem Thron.«
»Was schon lange her ist.«
Das war unnötig ungalant. »Es gibt viele Exilanten, die von ihrem Bruder eine Führungsrolle erwarten.«
»Ach so, du glaubst, wir werden alle noch Feodors Krönung erleben? Hoffentlich kann er sich dafür freinehmen.« Er lachte höhnisch auf und wandte Dagmar abrupt sein Gesicht zu, um sie seine Verachtung voll spüren zu lassen. Es war unerträglich. »Ich fürchte, dieses ganze Prinzessinnen-Gewese ist nur ein Vorwand für ein paar Snobs, Bücklinge zu machen, zu knicksen und ihre Dinnerpartys aufzupeppen.« Er schüttelte langsam den Kopf, als
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