Eine Krone für Alexander (German Edition)
bereit für sie ist.“
„Ich bin bereit“, beharrte er. „Ich will es wissen.“
„Lass uns allein, Myrtale.“
„Nein!“, rief Olympias erschrocken.
„Ich muss allein mit ihm sprechen.“
Zum ersten Mal in seinem Leben erlebte Alexander, dass seine
Mutter tat, was jemand anderes ihr befahl: Sie stand auf und verließ den Raum ohne
ein weiteres Wort. Als sie gegangen war, schlug die Seherin ihren Schleier
zurück, sodass er endlich ihr Gesicht sehen konnte. Trotz ihres Alters waren
ihre Züge ebenmäßig und klar, nur die Haut wirkte alt, knittrig wie die Schale
eines Apfels am Ende des Winters. Ihre Haare waren auf dem Hinterkopf zu einem
schlichten Knoten gebunden. Sie trug keinerlei Schmuck, nicht einmal ein
Amulett oder ein Emblem ihrer Götter.
„Du willst also deine Bestimmung wissen“, sagte sie und
lächelte. „Was glaubst du denn, was deine Bestimmung sein könnte?“
„König zu sein“, erwiderte er ohne Zögern.
„Aha. König.“ Sie wirkte ein wenig amüsiert. „Und sonst?“
„Was sonst?“ Es ärgerte ihn, dass sie Fragen stellte, statt
welche zu beantworten.
„Gibt es nicht noch mehr, als König zu sein? Achilleus und
Herakles sind beide deine Vorfahren – träumst du davon zu sein wie sie? Ein
Held, der gegen Ungeheuer kämpft, Prüfungen besteht und nach seinem Tod zu den
Göttern entrückt wird?“
Er starrte sie verständnislos an. Warum sollte er mit ihr
über Helden reden? Was konnte eine alte Priesterin, wie ehrwürdig auch immer,
schon über Helden wissen? „Heute gibt es keine Ungeheuer mehr“, wich er aus.
„Nein, es gibt keinen Zauber mehr in unserer Welt, keine
hundertköpfigen Schlangen, keine Drachen und geflügelten Pferde, keine
Zentauren und Sphingen. Und deshalb, könnte man meinen, gibt es auch keinen
Platz für Helden mehr.“ Sie lächelte wehmütig, als betrauere sie das
Verschwinden der alten, mythischen Welt. „Glaubst du an die Götter, Alexander?“
„Natürlich.“
„Warum?“
Er überlegte kurz, wie viel er ihr verraten sollte, doch
seit er ihr Gesicht sehen konnte, war sein Misstrauen kleiner geworden. Also
senkte er seine Stimme und flüsterte: „Weil ich sie spüren kann.“
„Die Götter?“ Sie beugte sich vor und sah ihm in die Augen.
„Wann konntest du sie spüren?“
Er versuchte, sich zu erinnern. „Zum ersten Mal im Tempel
der Artemis, später auch in dem des Zeus. Und dann noch einmal in Aigai, bei
den alten Gräbern der Könige. Jedes Mal konnte ich fühlen, dass da etwas war,
eine übermenschliche Präsenz. Etwas Göttliches.“
Aristarche war sehr ernst geworden. „Das ist eine große Gabe!
Die Priester der Mysterienkulte und die Propheten der Orakel nehmen Drogen, um
für das Göttliche empfänglich zu werden. Du aber spürst seine Anwesenheit auch
ohne solche Mittel.“ Dann lächelte sie wieder. „Auch die Götter wandeln nicht
mehr auf Erden, so, wie sie es früher taten, und doch sind sie überall. Man
muss nur offen sein für ihre Gegenwart. Vielleicht ist es mit den Helden
ebenso. Vielleicht gibt es sie noch immer.“
„Vielleicht“, gab er widerwillig zu.
„Und? Möchtest du einer sein?“
„Wollen das nicht alle Jungen?“ Er fühlte sich durchschaut.
„Was ist das eigentlich: ein Held?“ Aristarche lehnte sich
entspannt zurück. „Vielleicht kannst du es mir erklären. Nehmen wir einfach Herakles.
Warum war er ein Held?“
„Weil er stärker war als jeder Mensch.“
„Aha. Und weiter?“
„Weil er keine Furcht kannte.“
„Bist du sicher?“
„Ja“, antwortete er kurz und bestimmt.
„Was noch?“
„Weil er alle Aufgaben gemeistert und über alle Ungeheuer
und Feinde gesiegt hat. Er hat immer gewonnen und niemals versagt.“
„Er war ja auch ein Sohn des Zeus“, sagte die Seherin mit
einem Augenzwinkern. „Deshalb war er natürlich stärker als ein gewöhnlicher
Sterblicher. Aber angenommen, es wäre nicht so gewesen: Glaubst du, dass er
seine Taten dann trotzdem hätte vollbringen können?“
Alexander überlegte. „Vielleicht nicht, aber er hätte es auf
jeden Fall versucht.“
„Warum?“
Wieder dachte Alexander nach. Herakles hatte die Welt von
Ungeheuern und Gefahren befreit, hatte überall für Ordnung gesorgt. „Um den Menschen
zu helfen.“
„Was wäre, wenn er hin und wieder Furcht empfunden hätte …“
„Hat er nicht.“
„Nur einmal angenommen. Wäre er dann auch ein Held gewesen?“
„Ja, denn dann hätte er seine Furcht überwunden und
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