Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
nahm die Beleidigungen mit heiterer Gelassenheit auf und wies lediglich darauf hin, dass einer der empörten Unterzeichner des Briefes, der Architekt Charles Garnier, Mitglied der Kommission gewesen sei, die den Turm genehmigt hatte.
In seinem fertigen Zustand ist der Eiffelturm so einzigartig und harmonisch, steht, so wie er ist, derart selbstverständlich da, dass wir uns in Erinnerung rufen müssen, was für ein ungeheuer komplexes, montiertes Gebilde er ist: ein fein ziseliertes Gerüst aus 18 000 raffiniert zusammengefügten Teilen, hinter denen ein sehr kluger Kopf steckt, der sehr viel nachgedacht hat. Betrachten wir nur die 55 Meter bis zur ersten Plattform, was der Höhe eines fünfzehnstöckigen Gebäudes entspricht. Bis dahin lehnen sich die Beine in einem Winkel von vierundfünfzig Grad steil nach innen. Klar, dass sie umkippen würden, wenn sie nicht mit der Plattform verstrebt wären. Andererseits könnte sich auch die Plattform nicht dort oben halten, ohne dass die vier Beine darunter sie stützten. Die Teile greifen perfekt ineinander, aber bis es so weit ist, stützt natürlich nichts nichts. Die erste Herausforderung für Eiffel war es, vier immens hohe und schwere Beine im richtigen Moment so in eine feste Position zu bringen, dass sie eine große und sehr schwere Plattform halten konnten. Eine Abweichung von nur einem Zehntel Grad hätte jedes Bein um fünfundvierzig Zentimeter verschoben — viel zu viel, als dass man es hätte korrigieren können, ohne alles wieder abzutragen und von vorn zu beginnen. Eiffel bewältigte diese heikle Operation, indem er jedes Bein in einen riesigen Container mit Sand stellte, wie einen Fuß in einen großen Schuh. Als die Arbeit an ihnen beendet war, konnte man sie leicht in die richtige Position bringen, indem man den Sand sorgfältig kontrolliert aus den Kästen rieseln ließ. Dieses Vorgehen funktionierte tadellos.
Das war aber erst der Anfang. Über der ersten Plattform wurde ein weiteres, 245 Meter hohes Gestell aus 15 000 meist großen, sperrigen Teilen errichtet, die alle in zunehmend schwindelnde Höhen an Ort und Stelle gehievt werden mussten. An manchen Stellen betrug die Toleranz gerade mal ein Zehntel Millimeter. Nicht wenige Beobachter waren überzeugt, dass der Turm unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen würde. Ein Mathematikprofessor kritzelte fieberhaft stapelweise Papier mit Berechnungen voll und erklärte, wenn der Turm zwei Drittel seiner geplanten Höhe erreicht habe, würden die Beine sich abspreizen, das Ganze mit Karacho einstürzen und die Umgebung unter sich zermalmen. In Wirklichkeit ist der Eiffelturm mit 9500 Tonnen recht leicht — schließlich besteht er zum größten Teil aus Luft und brauchte nur etwas über zwei Meter tiefe Fundamente.
Es dauerte länger, ihn zu entwerfen, als ihn zu bauen. Letzteres war in nicht einmal zwei Jahren geschafft und längst nicht so teuer wie veranschlagt. Auf der Baustelle wurden nur 130 Arbeiter gebraucht, und keiner starb während des Baus — eine wunderbare Leistung für ein so riesiges Projekt in der Zeit. Bis zur Errichtung des Chrysler Building in New York im Jahre 1930 sollte der Eiffelturm das höchste Bauwerk der Welt bleiben. Obwohl 1889 Stahl Eisen allmählich überall ersetzte, nahm Eiffel ihn nicht, weil er immer mit Eisen gearbeitet hatte und sich mit Stahl nicht auskannte. Es liegt also eine gewisse Ironie darin, dass das größte Bauwerk, das je aus Eisen gebaut wurde, auch das letzte aus diesem Material war.
Der Eiffelturm war im ganzen neunzehnten Jahrhundert das beeindruckendste und fantasievollste Bauwerk überhaupt, und vielleicht auch die gewaltigste Konstrukteurleistung, doch nicht das teuerste und nicht einmal das teuerste in dem Jahr. Genau zu der Zeit nämlich, als er in Paris gen Himmel strebte, wuchs dreitausend Kilometer entfernt im Vorgebirge der Appalachen im Bundesstaat North Carolina ein noch teureres Gebäude in die Höhe — ein Privathaus im ganz großen Stil. Seine Fertigstellung sollte mehr als doppelt so lange dauern wie die des Eiffelturms, es sollten viermal so viele Arbeiter daran arbeiten, der Bau dreimal so viel kosten und dabei nur ein paar Monate im Jahr von einem Mann und seiner Mutter bewohnt werden. Das Haus hieß Biltmore, und es war (und ist) das riesigste Eigenheim, das je in Nordamerika gebaut wurde. Nichts sagt mehr über die sich verlagernde Wirtschaftskraft Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus als die Tatsache, dass man in der Neuen
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