Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Insekten sprangen, die er noch nie gesehen hatte. Er sammelte ein paar ein und schickte sie an John ObadiahWestwood, Professor der Zoologie in Oxford und internationale Koryphäe auf dem Gebiet der Insektenkunde.
Wer der Besitzer der Ranke war, weiß man leider nicht mehr, und das ist schade, weil er ein wichtiger Mensch war: nämlich der erste in Europa, dessen Pflanzen von Rebläusen befallen waren, einer winzigen, fast unsichtbaren Zwerglaus, die bald den europäischen Weinbau zugrunde richten sollte. Über Professor Westwood wissen wir indes sehr viel. Er stammte aus einfachen Verhältnissen — sein Vater war Werkzeugmacher in Sheffield — und war vollkommener Autodidakt. Er wurde in Großbritannien nicht nur zu einer führenden Autorität bei Insekten — an Fachkenntnis über die Viecher kam ihm wirklich niemand gleich —, sondern auch auf dem Gebiet der angelsächsischen Literatur. 1849 bekam er den ersten Lehrstuhl für Zoologie in Oxford.
Fast genau drei Jahre nach der Entdeckung der Reblaus in Hammersmith stellten Winzer in der Nähe von Arles in der Region Bouches-du-Rhöne fest, dass ihre Reben verdorrten und starben. Bald gingen in ganz Frankreich Weingärten zugrunde. Die Winzer waren machtlos, denn weil die Insekten die Wurzeln befielen, war die tödliche Krankheit erst sichtbar, wenn es zu spät war. Und weil die Weinbauern die Stöcke natürlich auch nicht ausgraben konnten, um zu sehen, ob sich dort Rebläuse tummelten, ohne dass die Pflanze starb, mussten sie warten und hoffen. Meist hofften sie vergeblich.
Binnen fünfzehn Jahren gingen vierzig Prozent aller Weinstöcke ein. Diejenigen, die überlebten, wurden zum Großteil durch Bepfropfen amerikanischer Unterlagsreben »wiederhergestellt«. Mitten in der allgemeinen Verwüstung gab es übrigens wundersame kleine Inseln, die offenbar verschont blieben. In der Champagne wurden bis auf zwei winzige Weingärten außerhalb von Reims alle vernichtet. Erstere waren aus irgendeinem Grund gegen die Pflanzenkrankheit immun und bringen heute noch Champagnertrauben aus ihren ursprünglichen Wurzeln hervor — nur noch hier und nirgendwo sonst.
Gewiss waren auch schon vorher Rebläuse nach Europa eingeschleppt worden, doch sie kamen wahrscheinlich als winzige Leichen an, weil die lange Seereise zu viel für sie war. Als aber schnelle Dampfschiffe fuhren und sogar noch schnellere Züge an 1 Sand, konnten die kleinen Gesellen frisch und fröhlich ankommen und neues Territorium erobern.
Da sie in Amerika beheimatet waren, waren natürlich alle Versuche, europäische Rebsorten auf amerikanischem Boden anzubauen, zum Scheitern verurteilt. Den amerikanischen Reben wiederum konnte die Reblaus erstaunlicherweise nichts anhaben, man gewann nur leider keinen besonders guten Wein aus ihnen was bereits für Bestürzung und Verzweiflung vom französischen New Orleans bis zu Thomas Jeffersons Monticello und weiter nach Ohio und dem hügeligen Hochland im Staat New York gesorgt hatte, wo Weinbau betrieben wurde. Reblausresistente europäische Pflanzen bekam man hingegen nur, wenn man sie auf amerikanische Wurzeln pfropfte. Ob der Wein so gut war wie in Europa, blieb dahingestellt.
In Frankreich wiederum fanden viele Winzer den Gedanken unerträglich, ihre Reben mit amerikanischen zu verderben. In Burgund sorgte man sich insbesondere um die Reinheit der geliebten und überaus wertvollen Grand-Cru-Trauben und weigerte sich vierzehn Jahre lang, die uralten Reben auf amerikanische Wurzeln zu pfropfen, selbst als sich die Reben schon auf allen Hügeln kräuselten und eingingen. Doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit haben viele Winzer heimlich ein bisschen gepfropft und dadurch vielleicht ihre noblen Weine vor dem Aussterben bewahrt.
Insgesamt existieren französische Weine heute nur wegen der amerikanischen Wurzeln, und es lässt sich unmöglich sagen, ob die Weine schlechter sind als vorher. Die meisten Experten finden das nicht, doch solch drastische Lösungen sorgen natürlich immer für anhaltende Zweifel bei den ohnehin Skeptischen. Allerdings haben die erhaltenen Vor-Reblaus-Weine einen derartigen Ruf gewonnen, dass viele Leute verleitet werden, sich von einer Menge Geld und gesundem Menschenverstand zu trennen, um etwas so Köstliches, Unersetzliches zu besitzen.
1985 blätterte Malcolm Forbes, der US-amerikanische Verleger, viele Tausend Dollar für eine Flasche Château Lafite 1787 hin. Die war natürlich viel zu wertvoll zum Trinken, und er
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