Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
hoch an, »dass sie lieber äußerste Gefahren und Schmerzen erleiden, als gegen die Sittsamkeit zu verstoßen, selbst wenn ihre Krankheiten nicht gründlich erkundet werden können«. Manche Ärzte waren gegen Zangengeburten, weil sie meinten, dann könnten Frauen mit schmalen Becken Kinder kriegen und diesen Mangel an ihre Töchter weitergeben.
Die unweigerliche Konsequenz all dessen war eine geradezu mittelalterliche Unkenntnis der weiblichen Anatomie und Physiologie unter Ärzten. In den Annalen der Medizin gibt es kein besseres Beispiel für professionelle Ahnungslosigkeit als den berühmten Fall der Mary Toft, einer analphabetischen Kaninchenzüchterin aus Godalming in Surrey, die 1726 über mehrere Wochen hinweg große ärztliche Kapazitäten, darunter zwei Hofmediziner, davon überzeugte, dass sie Kaninchen gebären werde. Das Ganze wurde landesweit zur Sensation. Mehrere Ärzte waren bei der Geburt zugegen und bekundeten ihr äußerstes Erstaunen. Erst als ein weiterer Arzt des Königs, ein Deutscher namens Cyriacus Ahlers, sich die Sache genauer besah und verkündete, dass es sich um eine Täuschung handle, gab Toft den Schwindel zu. Sie wurde kurz wegen Betrugs inhaftiert, doch dann nach Hause geschickt und ward nie mehr gesehen.
Von genauerer Kenntnis der weiblichen Anatomie und Physiologie kann auch in der Folgezeit nicht die Rede sein. Noch im Jahre 1878 konnte das British Medical Journal eine angeregte, lange Leserdebatte darüber bringen, ob ein Schinken verdürbe, wenn ihn eine menstruierende Frau berührt habe. Judith Flanders schreibt, dass ein britischer Arzt Berufsverbot bekam, weil er in einem Artikel behauptet hatte, dass die Veränderung der Farbe um die Vagina kurz nach dem Geschlechtsverkehr ein brauchbarer Indikator für eine Schwangerschaft sei. An der gelehrten Schlussfolgerung hatte man nichts auszusetzen, wohl aber daran, dass der Arzt verbotenes Terrain betrachtet hatte. In den Vereinigten Staaten wurde ein angesehener Gynäkologe namens James PlattWhite aus dem Berufsverband ausgeschlossen, weil er seinen Studenten erlaubt hatte, einer Frau — mit deren Einwilligung beim Gebären zuzusehen.
Im Vergleich dazu nehmen sich die Taten eines Chirurgen namens Isaac Baker Brown noch ungeheuerlicher aus. In einem Zeitalter, in dem Ärzte sich den Fortpflanzungszonen einer Frau nicht auf Armeslänge näherten, und wenn sie es getan hätten, keinen blassen Schimmer gehabt hätten, was sie da vorfanden, wurde Baker Brown zu so etwas wie einem Pionier in der gynäkologischen Chirurgie. Leider war er von zutiefst gestörten Vorstellungen geleitet, insbesondere von der Überzeugung, dass fast jedes Frauenleiden das Resultat »periphärer Erregung des nervus pudendus« sei, »der sich auf die Klitoris konzentriert«. Auf gut Deutsch: Er dachte, Frauen masturbierten und das sei die Ursache von Geisteskrankheit, Epilepsie, Katalepsie, Hysterie, Schlaflosigkeit und zahllosen anderen Nervenleiden. Am besten, meinte er, beuge man dem durch operative Entfernung der Klitoris vor, also der Ausschließung jeder möglichen mutwilligen Erregbarkeit. Baker war auch felsenfest überzeugt, die Eierstöcke seien überwiegend von Übel und es sei sinnvoll, sie zu entfernen. Eine solche Operation hatte aber noch niemand versucht; sie war besonders heikel und riskant. Die ersten drei Patientinnen starben ihm auf dem Operationstisch, doch unverzagt operierte er ein viertes Mal — ausgerechnet seine Schwester. Sie überlebte.
Als herauskam, dass er Frauen seit Jahren ohne deren Einwilligung oder vorherige Information die Klitoris entfernte, reagierte die Ärzteschaft rasch und erbost. 1867 wurde er aus dem Londoner Verband der Gynäkologen ausgeschlossen, wonach er im Prinzip nicht mehr praktizieren konnte. Aber wenigstens begriffen die Ärzte nun endlich, dass sie sich mit den Geschlechtsorganen weiblicher Patienten wissenschaftlich beschäftigen mussten. Es ist schon paradox, dass Baker Brown dadurch, dass er ein grottenschlechter Arzt und entsetzlicher Mensch war, mehr als irgendjemand anderes dazu beigetragen hat, Studium und Praxis der Frauenheilkunde voranzubringen und zu modernisieren.
II.
Einen triftigen Grund für die Angst vor der Sexualität gab es in vormodernen Zeiten allerdings: die Syphilis, eine grauenhafte Krankheit, zumindest für die unglücklichen Betroffenen, die das sogenannte dritte Stadium erreichen. Eine solche Erfahrung würden Sie gern missen. Die Syphilis machte Sex wirklich zu etwas,
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