Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
verkündete, Masturbation führe zu Blindheit. Und er war auch verantwortlich für die oft zitierte Behauptung, dass »die Mehrheit der Weiber nicht sehr an geschlechtlichen Gefühlen jedweder Art interessiert« sei.
Solche Auffassungen hielten sich erstaunlich lange. »Viele meiner Patienten haben mir erzählt, dass ihr erster Akt der Masturbation stattfand, als sie eine Musik-Revue anschauten«, berichtete Dr. William Robinson ergrimmt und vielleicht ein wenig unglaubwürdig in einer Arbeit über sexuelle Störungen im Jahr 1916.
Aber was für ein Glück — die Wissenschaft stand zur Hilfe bereit! Ein Mittel gegen Onanie war der in den 1850er Jahren entwickelte Stachelring für den Penis, den Mary Roach in dem 2008 (auf Deutsch 2009) erschienenen Bonk: Alles über SEX — von der Wissenschaft erforscht beschreibt. Den konnte man beim Schla-
fengehen (natürlich auch jederzeit sonst) über den Penis schieben. Er war mit Metallzacken bestückt, die sich in jeden Penis eingruben, der unfromm weiter anschwoll, als es der sehr geringe Durchmesser erlaubte. Andere Apparaturen rissen den überraschten, hoffentlich reumütigen Sünder mit Stromschlägen aus dem Schlaf.
Manche Leute fanden solcherlei Ansichten natürlich konservativ. Schon 1836 veröffentlichte der Arzt François Lallemand eine dreibändige Studie, in der er die These vertrat, dass häufiger Sex eine robuste Gesundheit schenke. Davon wiederum war der schottische Sexualforscher George Drysdale so beeindruckt, dass er eine Philosophie der freien Liebe und ungehemmten Sexualität mit dem Titel Körper-, Sexual- and Naturreligion verfasste. Sie wurde 1855 veröffentlicht, verkaufte sich 90000 Mal und wurde in elf Sprachen übersetzt, »einschließlich des Ungarischen«, wie das Dictionary of National Biography mit seiner üblichen bezaubernden Hervorhebung sinnloser Einzelheiten bemerkt. Jedenfalls gab es durchaus eine gewisse Sehnsucht nach größerer sexueller Freiheit in der Gesellschaft. Aber leider war die Gesell- schaft immer noch ein Jahrhundert und mehr davon entfernt, sie zu gewähren.
In solch einer permanent aufgeheizten, konfusen Atmosphäre nimmt es nicht Wunder, dass viele Menschen niemals zu einer befriedigenden Sexualität fanden — allen voran John Ruskin. Als der große Kunstkritiker 1848 die neunzehnjährige Euphemia »Effie« Chalmers Gray heiratete, fing es gleich schlecht an und wurde nicht besser. Die Ehe wurde nie vollzogen. Später erzählte Effie, Ruskin habe ihr gestanden, dass »er sich Frauen ganz anders vorgestellt habe, als ich war, und er mich nicht zu seiner Frau habe machen können, weil er am ersten Abend angeekelt von meiner Person war«.
Als Effie sich das endlich nicht mehr gefallen lassen wollte (oder sollen wir sagen, sie wollte sich viel mehr gefallen lassen nun aber von jemand anderem), klagte sie auf Annullierung der Ehe, was den Liebhabern der Klatschpresse in vielen Ländern zur detailreichen, erregenden Lektüre wurde, und tat sich dann mit dem Maler John Everett Millais zusammen (mit dem sie glücklich wurde und acht Kinder bekam). Das Timing war ein wenig unglücklich, weil Millais gerade ein Porträt von Ruskin malte. Doch Ruskin, ganz der Ehrenmann, saß weiter für Millais, allerdings wechselten die beiden Männer nie wieder ein Wort miteinander. Die zahlreichen Anhänger Ruskins reagierten auf den Skandal, als habe es ihn nie gegeben. 1900 war die ganze Episode so gründlich aus der Erinnerung getilgt, dass W.G. Collingwood, ohne rot zu werden, Das Leben John Ruskins schreiben konnte und auch nicht andeutungsweise erwähnte, dass Ruskin einmal verheiratet, geschweige denn, dass er beim Anblick weiblichen Schamhaars aus dem Zimmer gerannt war.
Ruskin überwand seine Prüderie nie, ja, ganz offenbar wollte er es auch gar nicht. Nach dem Tod J. M.W. Turners (1851!) wurde er beauftragt, die Werke durchzusehen, die der große Maler der Nation hinterlassen hatte, und stieß auf mehrere Aquarelle fröhlich erotischen Charakters. Entsetzt befand Ruskin, dass sie nur
»im Zustand einer gewissen Unzurechnungsfähigkeit« angefertigt worden sein konnten, zerstörte sie — zum Besten der Nation — fasi alle und beraubte die Nachwelt natürlich um mehrere unschätzbar wertvolle Arbeiten.
Dass Effie Ruskin aus ihrer unglücklichen Ehe entfleuchen konnte, war außergewöhnliches Glück, denn im neunzehnten Jahrhundert waren die Scheidungsgesetze wie alles andere, was die Ehe betraf, überwiegend zu Gunsten der
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