Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Mittelalter. Ja, der Möbelhistoriker Edward Lucie-Smith meint, wir wüssten mehr darüber, wie die alten Griechen und Römer saßen oder lagen, als über die Engländer von vor achthundert Jahren. Aus der Zeit vor 1300 sind so gut wie keine Möbel erhalten, und Darstellungen in Handschriften oder Gemälden sind dünn gesät und widersprüchlich.
Außerdem sollte man eins nicht vergessen: Die Häuser der verhältnismäßig Betuchten waren nicht unbedingt erheblich besser und üppiger ausgestattet als die der etwas ärmeren Zeitgenossen. Vornehmere Häuser hatten einfach nur größere halls.
Über Häuser allgemein wissen wir deshalb so wenig, weil kaum etwas von dem erhalten ist, was sich über der Erde befand. Die Angelsachsen liebten Holz, timber, als Baumaterial, und zwar so sehr, dass sie sämtliche Gebäude timbran nannten. Aber leider hat Holz es an sich, dass es verrottet und fast nichts davon übrig bleibt. In Großbritannien ist, soweit man das sagen kann, eine einzige Tür aus der angelsächsischen Zeit erhalten geblieben, eine schon arg ramponierte Eichentür in einem äußeren Vorraum der Westminster Abbey, die bis zum Sommer 2005 der Aufmerksamkeit entgangen war. Doch da begriff man auf einmal, dass sie neunhundertfünfzig Jahre alt und mithin die älteste bekannte Tür im Land war.
In diesem Zusammenhang sollte man einen Gedanken daran verschwenden, wie man das Alter einer Tür bestimmen kann. Nämlich mit der Dendrochronologie, dem wissenschaftlichen Zählen der Jahresringe. Baumringe sind ein sehr präziser Anhaltspunkt, jeder Ring steht für ein Jahr, und alle zusammen bilden eine Art hölzernen Fingerabdruck. Wenn man ein Stück Bauholz hat, dessen Alter gesichert ist, kann man die Ringmuster benutzen, um andere Hölzer aus derselben Periode damit zu vergleichen und zu datieren. Um durch die Jahrhunderte zurückgehen zu können, muss man einfach nur identische Muster finden. Hat man zum Beispiel einen Baum, der von 1850 bis 1910, und einen anderen, der von 1890 bis 1970 lebte, sollten sich die Muster aus den Jahren 1890 bis 1910 überlappen, also für die Zeit, in der beide Bäume lebten. Baut man eine Bibliothek der Ringfolgen auf, kann man weit in der Zeit zurückgehen.
In Großbritannien hat man insofern Glück, als sehr viel aus Eiche gebaut wurde, denn das ist der einzige Baum dort, der brauchbare deutliche Beweise liefert. Doch selbst die besten Hölzer bergen Probleme. Niemals haben zwei Bäume genau dasselbe Muster. Der eine hat vielleicht schmalere Ringe als ein anderer, weil er im Schatten wuchs, mehr Konkurrenz am Boden oder weniger Wasser hatte. Man benötigt also sehr viele Baumringsequenzen, um eine verlässliche Datenbank anlegen zu können, und man muss viele raffinierte statistische Anpassungen vornehmen, um akkurate Messwerte zu bekommen — und dafür nun wieder braucht man die Zauberformel von Pastor Thomas Bayes aus dem ersten Kapitel.
Nachdem die Wissenschaftler aus der Tür in der Westminster Abbey eine etwa bleistiftdicke Probe entnommen und sie den erwähnten Tests unterzogen hatten, konnten sie errechnen, dass die Tür aus dem Holz eines zwischen 1032 und 1064 gefällten Baumes hergestellt wurde, kurz vor der normannischen Eroberung. Und diese einzelne Tür ist fast alles, was aus der Zeit der Angelsachsen erhalten ist.*
Da man so wenig Anhaltspunkte dafür hat, wie die Häuser wirklich aussahen, kann man sich natürlich trefflich streiten. Jane Grenville bringt in ihrem wissenschaftlich maßgebenden Werk Wohnen im Mittelalter zwei faszinierende Abbildungen, die zeigen, wie sich zwei archäologische Teams, die dieselben Informationen benutzen, das Erscheinungsbild eines Langhauses in Wharram Percy vorstellten, einer mittelalterlichen Dorfwüstung in Yorkshire. Auf der einen Abbildung sieht man ein auffallend schmuckloses, aufs Elementare beschränktes Haus mit Wänden aus Lehm oder einer Mischung aus Lehm und Dung sowie einem Dach aus Gras oder Grassoden. Auf der anderen sieht man ein viel massiveres, technisch aufwändigeres Gebäude, in dem ein hölzerner Gurtbogen als Dachkonstruktion auf den Außenmauern liegt. Es hilft nun einmal nichts: Die archäologischen Befunde geben uns vielleicht Auskunft darüber, wie und wo die Gebäude auf der Erde standen, aber nicht, wie sie aussahen.
Lange glaubte man, dass mittelalterliche Bauernhäuser kaum*
*Die niedrigen Türen vieler alter europäischer Häuser, an denen sich die chronisch Gedankenzerstreuten unter uns gern
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