Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Mrs. Beetons Buch, wie erwähnt, ein riesiger, anhaltender Erfolg beschieden. Die überragende Selbstgewissheit und der riesige Themenumfang waren unwiderstehlich. Das Viktorianische Zeitalter war von Angst besessen, und Mrs. Beetons Wälzer versprach, die besorgte Hausfrau durch alle schäumenden Untiefen des Lebens zu geleiten. Beim Durchblättern der Seiten konnte die Leserin lernen, wie man Servietten faltet, eine Dienerin entlässt, Sommersprossen entfernt, ein Menü zusammenstellt, Blutegel anlegt, einen Battenberg cake, einen Marzipan umhüllten, sehr süßen Ku¬chen, backt und jemanden wiederbelebt, der vom Blitz getroffen worden ist. Mrs. Beeton erläuterte auch in genauen Schritten, wie man heißen gebutterten Toast macht, nannte Mittel gegen Stottern und Soor, erörterte die Geschichte der Lämmer als Opfertiere, gab eine vollständige Liste der Bürsten und Besen (Ofenbesen, Kranzleistenbürste, Geländerbürste, Reisigbesen, Teppichbesen, Tischbesen — insgesamt ungefähr vierzig), die man in jedem Haus brauchte, das auch in hygienischer Hinsicht respektabel sein wollt e, ließ sich über die Gefahren voreilig geschlossener Freundschaften und die Vorsichtsmaßnahmen aus, die zu ergreifen waren, bevor man ein Krankenzimmer betrat. Es war ein Handbuch mit Anleitungen, denen man blind folgen konnte, und genau das wollten die Leute. Mrs. Beeton hatte zu jedem Thema einen entschiedenen Standpunkt — sie war eben das häusliche Pendant zu einem Kasernenhofschleifer.
Sie starb mit erst achtundzwanzig Jahren an Kindbettfieber, acht Tage nach der Geburt ihres vierten Kindes, doch ihr Buch lebte weiter und erfreute sich bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein stetigen Absatzes.
Von heute aus betrachtet ist es beinahe unmöglich, sich zu den V iktorianern und ihren Essgewohnheiten eine vernünftige Meinung zu bilden. Zunächst einmal war das Sortiment der Lebensmittel überwältigend umfangreich. Augenscheinlich aßen die Leute alles, was da kreuchte und fleuchte oder aus dem kühlen Nass gezogen werden konnte. Schneehühner, Störe, Lerchen, Feldhasen, Waldschnepfen, Knurrhähne, Barben, Stinte, Bachstelzen, Schnepfen, Gründlinge,Weißfische, Aale, Schleie, Sprotten, junge Puter und viele heute meist vergessene Köstlichkeiten fanden Eingang in Mrs. Beetons viele Rezepte. Auch Obst und Gemüse gab es in scheinbar endloser Vielfalt. Allein bei den Äpfeln konnte man, heute kaum noch zu glauben, aus mehr als zweitausend Sorten mit hochpoetischen Namen wie Worcester Parmäne, Schönheit von Bath oder Cox Orange Pippin auswählen.
Thomas Jefferson zog auf seinem Landsitz Monticello zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts dreiundzwanzig verschiedene Sorten Erbsen und mehr als zweihundertfünfzig Arten Obst und Gemüse. (Er war, ungewöhnlich für seine Zeit, praktisch Vegetarier und aß nur kleine Portionen Fleisch als »würzige Zutat«.) Außer an Stachelbeeren, Erdbeeren, Pflaumen, Feigen und anderen Dingen, die bei uns heute auch noch zu haben sind, taten sich Jefferson und seine Zeitgenossen an Taybeeren (einer Kreuzung zwischen Brombeeren und Himbeeren), Rainfarn, Portulak, Japanischen Weinbeeren, Damaszenerpflaumen, Mispeln, Schraubenbaumgewächsen, Rouncevalerbsen, Zuckerwurzeln, Schwarzwurzeln, Liebstöckel und Dutzenden mehr gütlich, die man heute nur noch selten oder gar nicht mehr findet. Jefferson war übrigens sehr experimentierfreudig. Zu seinen vielen Leistungen zählt es, dass er als Erster Kartoffeln längs zerschnitt und sie briet. Er war also nicht nur Vater der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, sondern auch der Pommes frites.
Ein Grund, warum die Leute so gut essen konnten, bestand darin, dass es viele der Nahrungsmittel, die für uns heute Delikatessen sind, damals zuhauf gab. An den britischen Küsten wimmelte es geradezu von Hummern, und man verfütterte sie an Häftlinge und Waisen oder zermahlte sie zu Dünger. Diener baten um schriftliche Vereinbarungen, dass man ihnen nicht mehr als zweimal pro Woche Hummer vorsetzte.
Die US-Amerikaner lebten geradezu im Schlaraffenland. Allein im NewYorker Hafen gab es die Hälfte aller Austern weltweit, und man fischte dort so viel Stör, dass man Kaviar als Snack in Bars anbot. (Natürlich mit dem Hintergedanken, dass die Leute nach viel Salzigem mehr Bier trinken würden.) Menge und Vielfalt möglicher Gerichte und Gewürze waren atemberaubend. Ein I I otel in New York hatte im Jahr 1867 einhundertfünfundvierzig Gerichte auf der
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