Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Speisekarte. Ein beliebtes amerikanisches Rezeptbuch, Kochen zu Hause, von Mrs. J. Chadwick, sagte en passant, man solle einen Topf mit Gumbo mit einhundert Austern »verfeinern«. Mrs. Beeton übrigens brachte nur für Saucen nicht weniger als einhundertfünfunddreißig Rezepte.
Dabei zügelten sich die Viktorianer noch vergleichsweise in ihrem Appetit. Das goldene Zeitalter der Völlerei war das achtzehnte Jahrhundert, die Ära von John Bull, der feuerrotgesichtigen, ii überfressensten, Herzinfarkt gefährdetsten Ikone, die je eine Nation in der Hoffnung erkor, andere Nationen zu beeindrucken. Und es ist vielleicht auch kein Zufall, dass sich die beiden fettesten Monarchen in der britischen Geschichte hauptsächlich im achtzehnten Jahrhundert die Wampe vollschlugen. Die erste war Queen Anne. Obwohl Gemälde sie taktvoll immer nur ein bisschen füllig zeigen, wie eine mollige Rubens-Schönheit, besaß sie gargantueske Ausmaße und war, in den offenen Worten ihrer ehemals besten Freundin, der Herzogin von Marlborough, »über die Maßen füllig und beleibt«. Zum Schluss war Anne so weit auseinandergegangen, dass sie nicht mehr die Treppen hinauf- und hinuntergehen konnte und man in Windsor Castle in den Boden ihrer Gemächer eine Falltür einfügte, durch die sie mittels eines Flaschenzugs mit viel Geruckel und wenig Eleganz in die Staatsräume darunter hinabgelassen wurde. Was muss das für ein Anblick gewesen sein! Nach ihrem Tode wurde sie in einem »fast quadratischen« Sarg beigesetzt. Berüchtigter für seine Gewicht igkeit war der Prinzregent und spätere (von 1820 bis 1830) König George IV., dessen Bauch, wenn er ihn aus dem Korsett ließ, angeblich bis zu seinen Knien hinunterschwappte.
Selbst schlankere Leute setzten sich regelmäßig zu Essensmengen hin, die einem unglaublich großzügig, wenn nicht gar unverdaulich vorkommen. Der Herzog von Wellington berichtete von einem Frühstück, das aus »zwei Tauben und drei Beefsteaks bestand, drei Vierteln einer Flasche Moselwein, einem Ironisch ist, dass die Viktorianer offenbar, je mehr sie sich fürs Essen begeisterten, desto weniger fähig waren, es zu genießen. Mrs. Beeton machte eigentlich nicht den Anschein, als äße sie Kern; sie behandelte die Nahrungsaufnahme wie die meisten Dinge eher als bittere Notwendigkeit, die man entschlossen und effizient hinter sich bringen müsse.
Besonders misstraute sie allem, was auch nur ein bisschen Würze in die Speisen brachte. Knoblauch verabscheute sie, wie erwähnt. Chili fand sie kaum der Rede wert. Sogar schwarzen Pfeffer empfahl sie nur den Tollkühnen. »Man sollte nie vergessen«, ermahnte sie ihre Leserinnen und Leser, »dass er auch in kleinen Mengen auf erregbare Gemüter einen schädlichen Einfluss hat.« Solcherlei Warnungen wurden in den zeitgenössischen Magazinen und Büchern endlos wiederholt.
Schließlich gaben die Viktorianer es gänzlich auf, ihren Mahlzeiten Geschmack zu verleihen, und konzentrierten sich nur noch darauf, sie heiß auf den Tisch zu bringen. In größeren Häusern war das ein durchaus hochgestecktes Ziel, denn Küchen konnten außerordentlich weit entfernt von den Esszimmern sein. Audley End in Essex war in dieser Hinsicht rekordverdächtig, denn dort betrug der Weg von der Küche zum Esszimmer fast zweihundert Meter. In Tatton Park in Cheshire versuchte man die Sache zu beschleunigen, indem man eine Hauseisenbahn einrichtete; da konnten die Wagen aus der Küche zu einem fernen Speiseaufzug expediert werden, der sie schleunigst weiterbeförderte.
Sir Arthur Middleton auf Belsay Hall in der Nähe von Newcastle legte äußersten Wert auf heiße Speisen und stieß ein Thermometer in jedes Gericht, das ihm aus der Küche geschickt wurde. Und wenn Letzteres nicht die erwarteten Wärmegrade erreichte, wurde es prompt zum erneuten Erhitzen zurückgeschickt, manchmal mehrere Male. Häufig nahm er also seine Abendmahlzeiten sehr spät und in mehr oder weniger verkohltem Zustand ein. Auguste Escoffier, der große französische Chefkoch im Savoy Hotel in London, erwarb sich nicht nur deshalb großes Ansehen bei britischen Gästen, weil er sehr gut kochte, sondern weil er ein arbeitsteiliges System in der Küche einführte, nach dem verschiedene Köche sich spezialisierten — einer auf das Fleisch, einer auf das Gemüse und so weiter —, so dass alles auf einmal auf die Teller gelegt und in ungewohnter dampfender Herrlichkeit zu Tisch gebracht werden konnte.
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