Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
denen er allein speiste, einsam gefühlt haben. Aber wenigstens der Blick hinüber zum Kirchhof war schön.
Wir wissen eigentlich nicht, wie Mr. Marsham das Esszimmer nutzte, nicht nur deshalb, weil wir so wenig über Mr. Marsham wissen, sondern auch, weil wir überraschend wenig über Esszimmer wissen. Mitten auf dem Tisch thronte wahrscheinlich ein kostspieliger, eleganter Gegenstand, der als Tafelaufsatz bekannt war: kunstreiche, unterschiedlich hohe, vielfach verästelte Gestelle hielten mit allerlei Nüssen und Früchten gefüllte Schalen. Der Tafelaufsatz fehlte sicher ein Jahrhundert lang auf keinem Tisch, der einigermaßen auf sich hielt.
Bei Mr. Marsham standen um dieses Renommierstück herum sicher Menagen — elegante, meist silberne kleine Ständer mit Gewürzen —, und auch die umgibt ein Geheimnis. In herkömmlichen Menagen gab es zwei Glaskaraffen mit Stöpseln, für Ö1 und Essig, und drei zueinander passende Streuer, Behälter, die oben Löcher hatten, damit man Geschmackstoffe auf sein Essen streuen konnte. Zwei enthielten Salz und Pfeffer, doch was in dem dritten war, weiß man nicht. Man meint oft, es sei getrockneter Senf gewesen, das aber eigentlich nur, weil einem sonst nichts einfällt, das hineingepasst hätte. »Bisher hat noch niemand einen plausiblen Vorschlag gemacht«, sagt der Nahrungsmittelhistoriker Gerard Brett. Das stimmt, man hat keinerlei Beweise, dass die Leute am Tisch jemals Senf in dieser praktischen Form wollten oder futterten. Vermutlich aus diesem Grund verschwand der dritte Streuer zu Lebzeiten Mr. Marshams rapide von den Tischen, ja die Menagen selbst verschwanden. Dafür gab es zunehmend jeweils verschiedene Gewürze zu verschiedenen Mahlzeiten und allmählich bestimmte Gewürze zu bestimmten Speisen: Pfefferminzsauce zu Lamm, Senf zu Schinkenbraten, Meerrettich zu Rinderbraten. Auch Dutzende anderer Gewürze kamen schon in der Küche zum Einsatz. Zwei allerdings betrachtete man als derart unerlässlich, dass sie überhaupt nicht mehr vom Tisch weggetragen wurden. Ich meine natürlich Pfeffer und Salz.
Warum ausgerechnet diese beiden von den Hunderten von Gewürzen, aus denen man auswählen konnte, so unverwüstlich sind und heute noch benutzt werden, haben wir uns schon zu Beginn des Buches gefragt. Die Antwort ist kompliziert, ja spektakulär. Denn an nichts, mit dem Sie heute in Berührung kommen, klebt mehr Blut als an dem harmlosen Salz-und-Pfeffer-Set.
Fangen wir mit dem Salz an. Salz gehört aus einem wesentlichen Grund zu unserer Ernährung: Wir brauchen es. Ohne Salz würden wir sterben. Es ist eines von etwa vierzig winzigen Teilchen von Zusatzstoffen — allerlei Kleinkram aus der Welt der Chemie —, die wir unserem Körper zuführen müssen, damit wir den nötigen Elan und die nötige Ausgeglichenheit haben, um am Leben zu bleiben. Alle zusammen nennen wir sie Vitamine und Mineralien, und vieles — wirklich, erstaunlich vieles — wissen wir nicht über sie, einschließlich dessen, wie viel wir von ihnen brauchen, was genau sie machen und in welchen Mengen wir sie am besten zu uns nehmen.
Es dauerte lange, bis sich die Einsicht, dass wir sie überhaupt brauchen, durchgesetzt hat. Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein wäre niemandem im Traum eingefallen, auf eine ausgewogene Ernährung zu achten. Man glaubte, alles Essen enthalte eine einzige wie auch immer nährende Substanz — »die universelle Nahrung«. Ein Pfund Rindfleisch hielt man für genauso wertvoll für den Körper wie ein Pfund Äpfel, Pastinaken oder sonst was und meinte, der Mensch müsse nur zusehen, dass er große Mengen zu sich nehme. Der Gedanke, dass bestimmte Nahrungsmittel lebenswichtige Elemente enthielten, die entscheidend für das Wohlergehen waren, war noch niemandem gekommen. Wundern sollte einen das nicht, denn die Symptome von Mangel- oder einseitiger Ernährung — Antriebslosigkeit, schmerzende Gelenke, zunehmende Anfälligkeit für Infektionen, Sehtrübungen — deuten ja selten auf eine unausgewogene Ernährung hin. Selbst wenn Ihnen heute die Haare ausfallen oder die Knöchel alarmierend anschwellen, denken Sie nicht unbedingt als Erstes darüber nach, was Sie in letzter Zeit gegessen haben. Noch weniger würden Sie darüber nachdenken, was Sie nicht gegessen haben. Und darüber haben auch ratlose Europäer nicht nachgedacht, die lange Jahrhunderte in oft erschütternd großer Anzahl starben, ohne zu wissen, warum.
Allein dem Skorbut, schätzt man, fielen
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