Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
war 25 Kilometer lang und wurde von Europäern eingerichtet – die chinesische Regierung zerstörte sie schon ein Jahr darauf. Im Jahr 1880 gab es nicht einen einzigen Eisenbahnzug im ganzen Chinesischen Reich! Reichten den Chinesen 50 Jahre nicht, um die Bedeutung der Eisenbahn zu erkennen und zu lernen, wie man Schienen verlegt und Bahnlinien betreibt? In Persien wurde die erste Eisenbahnlinie im Jahr 1888 eröffnet. Sie verband Teheran mit einer zehn Kilometer entfernten Pilgerstätte und wurde von einem belgischen Unternehmen eingerichtet und betrieben. Im Jahr 1950 kam das gesamte Schienennetz des Iran – einem Land, das sieben Mal so groß ist wie Großbritannien – auf magere 2500 Kilometer. 90
Es ist nicht so, als hätte den Chinesen und Persern das technische Knowhow gefehlt – Dampfmaschinen ließen sich schließlich ganz einfach kaufen oder nachbauen. Was ihnen fehlte, waren die Werte und Mythen, der juristische Apparat und die gesellschaftlichen und politischen Strukturen, die im Westen über Jahrhunderte hinweg herangereift waren und sich nicht so einfach kopieren und verinnerlichen ließen. Frankreich und die Vereinigten Staaten konnten rasch in die Fußstapfen von Großbritannien treten, weil die Franzosen und Amerikaner viele Mythen und Gesellschaftsstrukturen mit den Briten gemeinsam hatten. Die Chinesen und Perser konnten nicht Schritt halten, weil sie ganz anders dachten und sich anders organisierten.
Diese Erklärung wirft ein neues Licht auf die Jahrhunderte zwischen 1500 und 1850. In diesem Zeitraum hatte Europa zwar keinen erkennbaren technischen, politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Vorsprung gegenüber asiatischen Mächten. Doch Europa baute sich ein einmaliges Potenzial auf, dessen Bedeutung um das Jahr 1850 schlagartig sichtbar wurde. Die scheinbare Gleichheit zwischen Europa, China und der islamischen Welt, die noch 1750 Bestand hatte, war in Wirklichkeit eine Illusion. Stellen Sie sich zwei Maurer vor, die jeder einen Turm bauen. Einer benutzt Holz und Lehmziegel, der andere Stahl und Beton. Zunächst scheinen sich die beiden Methoden nicht allzu sehr voneinander zu unterscheiden, denn beide Türme wachsen mit derselben Geschwindigkeit. Aber nachdem sie eine kritische Höhe erreicht haben, trägt das Gerüst aus Holz und Lehm nicht mehr und fällt in sich zusammen, während der Turm aus Stahl und Beton immer weiter wächst und kein Ende in Sicht scheint.
Was genau war dieses einmalige Potenzial, das sich die Europäer in der frühen Neuzeit anlegten und mit dessen Hilfe sie im 19. und 20. Jahrhundert die ganze Welt eroberten? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten, die einander ergänzen: die modernen Wissenschaften und der Kapitalismus. Die Europäer lernten, wissenschaftlich und kapitalistisch zu denken und zu handeln, lange bevor sie einen spürbaren technischen Vorsprung daraus zogen. Als ihre Technologie Früchte trug, waren die Europäer besser als alle anderen in der Lage, sie zu nutzen, und deshalb eroberten sie die Welt. Es ist daher kein Zufall, dass Wissenschaft und Kapitalismus das wichtigste Erbe sind, das der europäische Imperialismus der post-europäischen Welt des 21. Jahrhunderts hinterlässt. Europa und die Europäer mögen nicht mehr die Welt beherrschen, doch Wissenschaft und Kapital werden immer stärker. Den Siegeszug des Kapitalismus wollen wir uns im nächsten Kapitel ansehen. In diesem Kapitel geht es um die Romanze zwischen dem europäischen Imperialismus und den modernen Wissenschaften.
Die Eroberungsmentalität
Die modernen Wissenschaften wuchsen mit den europäischen Imperien. Natürlich stehen sie tief in der Schuld der alten wissenschaftlichen Traditionen, zum Beispiel des antiken Griechenland, Chinas, Indiens und des Islam. Doch erst in der frühen Neuzeit nahmen die modernen Wissenschaften ihre besondere Form an, Hand in Hand mit der Expansion der Kolonialreiche Spaniens, Portugals, Großbritanniens, Frankreichs, Russlands und der Niederlande. Während der frühen Neuzeit lieferten Chinesen, Inder, Muslime, amerikanische Ureinwohner und Polynesier noch wichtige Beiträge zur wissenschaftlichen Revolution. Adam Smith und Karl Marx lasen die Abhandlungen von muslimischen Wirtschaftswissenschaftlern, medizinische Handbücher nahmen Behandlungsmethoden von indianischen Heilern auf und die westliche Anthropologie wurde durch Auskünfte von polynesischen Ureinwohnern bereichert. Doch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren es die
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