Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
beschränkten ihre Aktivitäten auf ihre unmittelbare Nachbarschaft und erreichten ferne Länder nur deshalb, weil sie sich von einem Nachbarland zum nächsten voranschoben. So eroberten die Römer Etrurien in Mittelitalien, um die Stadt Rom zu schützen (zirka 350 –300 v. u. Z.). Dann eroberten sie die Poebene, um Etrurien zu sichern (120 v. u. Z.). Wenig später rückten sie in die heutige Provence ein, um sich in der Poebene den Rücken freizuhalten, nahmen Gallien ein, um die Provence zu schützen (50 v. u. Z.) und setzten schließlich nach Britannien über, um Gallien zu verteidigen (50 u. Z.). Insgesamt brauchten sie 400 Jahre, um von Rom nach London zu kommen. Im Jahr 350 v. u. Z. wäre kein Römer auf den Gedanken gekommen, auf direktem Weg zu den Britischen Inseln zu segeln und sie zu erobern.
Gelegentlich unternahmen ehrgeizige Herrscher oder Abenteurer weite Eroberungsfeldzüge, doch dabei rückten sie in der Regel auf den ausgefahrenen Wegen der Händler und früheren Reiche vor. Alexander der Große errichtete beispielsweise kein neues Reich, sondern eroberte einfach ein bestehendes, nämlich das der Perser. Wenn es Vorbilder für die europäischen Imperien der Neuzeit gab, dann bestenfalls die antiken Seereiche von Athen und Karthago oder das Inselreich von Majapahit, das sich im 14. Jahrhundert über weite Teile Indonesiens erstreckte. Doch selbst diese Imperien wagten sich nur selten in unbekannte Gewässer vor: Im Vergleich mit den weltumspannenden Unternehmungen der Europäer handelte es sich um regionale Angelegenheiten.
Viele Wissenschaftler behaupten, die Reisen des chinesischen Admirals Zheng He hätten die europäischen Entdeckungsreisen vorweggenommen und noch in den Schatten gestellt. Zwischen 1405 und 1433 führte Zheng He sieben gewaltige Flotten von China bis in die entlegensten Winkel des Indischen Ozeans. An der größten Expedition nahmen fast 300 Schiffe und 30000 Seeleute teil. 91 Sie besuchten Indonesien, Sri Lanka, Indien, den Persischen Golf, das Rote Meer und Ostafrika. Chinesische Schiffe gingen in Dschidda, dem Haupthafen der arabischen Region Hedschas, und in Malindi an der kenianischen Küste vor Anker. Die Flotte, mit der Kolumbus 1492 in den Bahamas anlegte, bestand dagegen aus drei Nussschalen und 120 Seeleuten – ein Witz neben Zheng Hes Armada. 92
Trotzdem gab es einen ganz entscheidenden Unterschied. Zheng erforschte zwar die Meere, doch er hatte kein Interesse daran, die besuchten Länder zu erobern. Er unterstützte Herrscher, die China freundlich gesonnen waren, aber er unternahm keinen systematischen Versuch, Länder zu besetzen oder gar zu besiedeln. Zheng Hes Expeditionen waren außerdem kaum in der chinesischen Kultur verwurzelt. Als in den 1430er Jahren ein neuer Kaiser an die Macht kam, stellte dieser die Expeditionen umgehend ein. Die Flotte wurde eingemottet, technisches und geographisches Wissen geriet in Vergessenheit und die Erkundungsfahrten wurden nie wieder aufgenommen. In den kommenden Jahrhunderten beschränkten die chinesischen Kaiser – genau wie die meisten ihrer Vorgänger – ihre Interessen auf die unmittelbare Umgebung des Reichs der Mitte.
Die Expeditionen von Zheng He zeigen, dass die Europäer keinen technischen Vorsprung hatten. Was die europäischen Expeditionen so einmalig macht, ist der beispiellose und unstillbare Entdeckungs- und Eroberungsdrang. Wenn die vormodernen Imperien keine Expeditionen aussandten, um ferne Länder zu erforschen und zu erobern, dann lag das nicht daran, dass sie nicht dazu in der Lage gewesen wären. Sie hatten ganz einfach kein Interesse daran. Die Römer unternahmen nie den Versuch, Indien oder Skandinavien zu erobern, die Perser verspürten nie die Motivation, sich Madagaskar oder Spanien unter den Nagel zu reißen, und die Chinesen wollten sich nie in Indonesien oder Afrika breitmachen. Die meisten chinesischen Kaiser ließen selbst das benachbarte Japan in Frieden. Das war nicht weiter verwunderlich. Wozu sollten die Römer Indien erobern, oder was hätten die Chinesen in Indonesien gewollt? Die eigentliche Ausnahme waren die Europäer der frühen Neuzeit, die plötzlich von einer Art Wahn befallen wurden und in unbekannte Länder mit fremden Kulturen aufbrachen, einen Fuß auf den Strand setzten und sofort erklärten: »Ich beanspruche dieses Land für meinen König!«
Invasion aus dem All
Um das Jahr 1517 hörten die spanischen Siedler in der Karibik erste Gerüchte über das mächtige
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