Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
an die nächste Generation weiterzugeben, ohne dass dazu Genmutationen oder Umweltveränderungen nötig gewesen wären. Das wird am Beispiel der kinderlosen Eliten deutlich, zum Beispiel der buddhistischen Mönche, der katholischen Priester oder der chinesischen Eunuchen-Bürokraten. Die bloße Existenz dieser Führungsschichten widerspricht allen Gesetzen der natürlichen Auslese, denn die Angehörigen dieser Eliten verzichteten freiwillig auf Fortpflanzung. Während bei den Schimpansen die Alphamännchen ihre Macht nutzen, um sich mit so vielen Weibchen wie möglich zu paaren und möglichst alle Nachkommen der Horde zu zeugen, enthalten sich die katholischen Alphamännchen des Geschlechtsverkehrs und der Aufzucht des Nachwuchses. Diese Abstinenz ist nicht etwa die Folge einmaliger Umweltbedingungen, zum Beispiel einer schweren Futterknappheit oder dem Mangel an paarungswilligen Partnerinnen. Sie hat auch nichts mit einer sonderbaren Genmutation zu tun. Die katholische Kirche hat Jahrtausende lang existiert, ohne dass ein »Zölibats-Gen« von einem Papst zum nächsten weitergegeben werden musste. Es reichte, die Geschichten des Neuen Testaments und des Kirchenrechts weiterzuerzählen.
Das heißt, während sich die Verhaltensmuster der Urmenschen über Zehntausende von Jahren hinweg nicht veränderten, konnte der Sapiens seine Gesellschaftsstrukturen, zwischenmenschlichen Beziehungen und alle möglichen anderen Verhaltensweisen innerhalb von ein oder zwei Jahrzehnten völlig über den Haufen werfen. Nehmen wir zum Beispiel eine Einwohnerin der Stadt Dresden, die im Jahr 1900 zur Welt kam und das stattliche Alter von hundert Jahren erreichte, ohne die Stadt zu verlassen. Ihre Kindheit verbrachte sie im Kaiserreich Wilhelms II . und ihr Erwachsenenalter in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der kommunistischen DDR , um schließlich im wiedervereinigten und demokratischen Deutschland zu sterben. Damit lebte sie unter fünf verschiedenen politischen Systemen, während ihre Gene immer dieselben blieben. Genau das war der Schlüssel zum Erfolg des Homo sapiens . Im Faustkampf mit einem Neandertaler hätte der Sapiens vermutlich den Kürzeren gezogen. Aber in einem Kampf zwischen einigen Hunderten Angehörigen beider Arten hatte der Neandertaler nicht den Hauch einer Chance. Die Neandertaler konnten sich vermutlich gegenseitig darüber informieren, wo und wann sie Löwen gesehen hatten, aber sie waren wahrscheinlich nicht in der Lage, sich Geschichten über Stammesgeister zu erzählen und diese nach Belieben umzugestalten. Aber ohne diese erzählerischen Fähigkeiten waren die Neandertaler kaum in der Lage, effektiv in großen Gruppen zusammenzuarbeiten, und genauso wenig konnten sie ihr Sozialverhalten an plötzlich auftretende Herausforderungen anpassen.
Wir können einem Neandertaler natürlich nicht in den Kopf schauen, um zu sehen, wie und was er dachte. Es gibt jedoch zahlreiche indirekte Hinweise dafür, wie beschränkt ihre geistigen Fähigkeiten im Vergleich mit denen der Sapiens waren. Bei der Ausgrabung von 30000 Jahre alten Sapiens-Fundstätten in Zentraleuropa finden Archäologen immer wieder Muscheln von der Mittelmeer- oder der Atlantikküste. Diese Muscheln gelangten vermutlich durch den Handel zwischen verschiedenen Gruppen von Sapiens ins Innere des Kontinents. Nach allem, was wir wissen, trieben die Neandertaler dagegen keinen Handel. Jede Gruppe stellte ihre Werkzeuge aus den Materialien her, die sie vor Ort fand. 6
Ein anderes Beispiel stammt aus dem Südpazifik. Die Sapiens-Gruppen, die auf der Insel Neuirland nördlich von Neuguinea lebten, benutzten ein Vulkanglas namens Obsidian, um besonders harte und scharfe Werkzeuge herzustellen. Laboruntersuchungen haben gezeigt, dass das Vulkanglas von der vierhundert Kilometer entfernt Insel Neubritannien stammte. Einige Einwohner der Insel müssen also geschickte Seefahrer gewesen sein, die zwischen den Inseln Handel trieben. 7 Wenn Sapiens mit Muscheln und Obsidian handelten, haben sie vermutlich auch Informationen weitergegeben und damit ein engmaschigeres und größeres Wissensnetzwerk geschaffen als Neandertaler und andere Urmenschen.
Die Jagdtechniken sind ein weiteres Beispiel für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Menschenarten. Neandertaler jagten in der Regel allein oder in kleinen Gruppen. Sapiens entwickelten dagegen Formen der Jagd, an denen mehrere Dutzend Menschen, vielleicht sogar zum Teil Angehörige
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