Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
Vom Netzwerk:
für immer gekappt.
    An diesem Punkt müssen sich Sapiens, Neandertaler und Denissower vor etwa 50000 Jahren befunden haben. Wie wir im kommenden Kapitel sehen werden, unterschieden sich die Sapiens damals nicht nur genetisch und körperlich, sondern auch hinsichtlich ihrer kognitiven und sozialen Fähigkeiten erheblich von ihren Vettern. Trotzdem konnten sie in seltenen Fällen noch Nachwuchs mit ihnen zeugen. Die Arten verschmolzen also nicht – es gelang lediglich ein paar Neandertalergenen, als blinde Passagiere auf den Sapiens-Express aufzuspringen. Es ist ein aufregender, aber auch beunruhigender Gedanke, dass Sapiens irgendwann einmal in der Lage waren, mit Angehörigen anderer Tierarten Nachkommen zu zeugen.
    Aber wenn die Neandertaler nicht mit in Sapiens aufgingen, warum sind sie dann verschwunden? Es kann durchaus sein, dass die Neandertaler ausstarben, weil sie der Konkurrenz durch den Homo sapiens nicht gewachsen waren. Stellen Sie sich vor, eine Gruppe von Sapiens kommt in ein Tal auf dem Balkan, das seit Hunderttausenden Jahren von Neandertalern bewohnt wird. Die Neuankömmlinge jagen Wild und sammeln Nüsse und Beeren, die auch auf dem Speisezettel der Neandertaler stehen. Dank ihrer überlegenen Technologie und Sozialkompetenz sind die Sapiens bessere Jäger und Sammler und vermehren sich rasch. Die weniger geschickten Neandertaler finden dagegen immer weniger Nahrung, ihre Population wird stetig kleiner und stirbt irgendwann aus.
    Es ist allerdings durchaus denkbar, dass der Konkurrenzkampf in Gewalt und Blutvergießen ausartete. Der Homo sapiens ist nicht gerade für seine Toleranz bekannt. In der Geschichte der Art reichte oft schon ein winziger Unterschied in Hautfarbe, Dialekt oder Religion, damit eine Gruppe von Sapiens eine andere ausrottete. Warum sollten die frühen Sapiens mit einer gänzlich anderen Menschenart zimperlicher umgesprungen sein? Es ist gut möglich, dass die Begegnung zwischen Sapiens und Neandertalern mit der ersten und gründlichsten »ethnischen Säuberung« der Geschichte endete.
    Was auch immer passiert sein mag, die Neandertaler bieten Anlass zu faszinierenden Gedankenspielen. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn die Neandertaler neben dem Homo sapiens überlebt hätten. Welche Kulturen, Gesellschaften und politischen Strukturen wären in einer Welt entstanden, in der mehrere Menschenarten friedlich nebeneinander existierten? Wie hätten sich beispielsweise die Religionen entwickelt? Könnten wir heute in der Bibel lesen, dass der Neandertaler von Adam und Eva abstammte? Wäre Jesus auch für die Sünden der Neandertaler ans Kreuz genagelt worden? Würde der Koran allen Rechtgläubigen einen Platz im Paradies versprechen, egal welcher Art sie angehören? Hätten die Neandertaler in den Legionen des Römischen Reichs und in der ausufernden Bürokratie der chinesischen Kaiser gedient? Hätte Karl Marx die Proletarier aller Arten aufgerufen, sich zu vereinigen? Würde die Erklärung der Menschenrechte für alle Angehörigen der Gattung Homo gelten?
    In den vergangenen 30000 Jahren haben wir Sapiens uns derart daran gewöhnt, die einzige Menschenart zu sein, dass es uns schwerfällt, uns eine andere Möglichkeit auch nur vorzustellen. Ohne Brüder und Schwestern fiel es uns leichter zu glauben, wir seien die Krone der Schöpfung, die durch einen unüberwindlichen Abgrund vom Rest der Tierwelt getrennt sei. Als Charles Darwin erklärte, der Mensch sei nur eine von vielen Tierarten, waren seine Zeitgenossen empört. Selbst heute weigern sich viele, diese Tatsache anzuerkennen. Aber würden wir uns auch dann noch für ein auserwähltes Wesen halten, wenn die Neandertaler überlebt hätten? Vielleicht war das ja der Grund, warum unsere Vorfahren die Neandertaler ausrotteten: Sie waren zu ähnlich, um sie zu ignorieren, und zu anders, um sie zu dulden.
    *
    Welche Rolle die Sapiens dabei auch gespielt haben mögen – wo immer sie auftauchten, verschwanden die einheimischen Menschenarten. Die letzten Angehörigen des Homo soloensis segneten vor 50000 Jahren das Zeitliche, der Homo denisova folgte 10000 Jahre später. Die letzten Neandertaler verabschiedeten sich vor rund 30000 Jahren, und die Zwergmenschen von der Insel Flores gingen vor 12000 Jahren dahin. Zurück blieben ein paar Knochen und Steinwerkzeuge, eine Handvoll Gene in unserem Genom und eine Menge unbeantworteter Fragen. Einige Wissenschaftler hegen die Hoffnung, sie könnten eines Tages in den unberührten

Weitere Kostenlose Bücher