Eine Lady nach Maß
können, aber da hätte ich zu wenig Geld verdient. Meine Mutter und meine Schwester waren damals auf die Unterstützung angewiesen, die ich ihnen zukommen ließ. Als die Tante meiner Arbeitgeberin, selbst Schneiderin, zur Hochzeit kam und mir eine Anstellung in Vollbezahlung in San Antonio anbot, entschied ich mich dazu, den berühmten amerikanischen Westen kennenzulernen. Ich habe zwei Jahre bei Mrs Granbury gearbeitet und ich muss sagen, dass ich Texas lieben gelernt habe.“
„Bestimmt ist es schwer, so weit weg von der Familie zu leben.“
„Ja.“ Hannah dachte an die verpassten Weihnachtsfeste und daran, dass es lange dauern würde, bis sie das Baby ihrer Schwester kennenlernen würde. Einsamkeit machte sich in ihr breit und es dauerte einen Augenblick, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. „Aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich hatte die Möglichkeit, mein Geschäft hier viel schneller als gedacht zu eröffnen. In Boston wäre das nicht möglich gewesen. Und wenn ich schnell ein paar Freunde in Coventry finde, wird mein Leben noch reicher werden.“
Als sie die schüchterne Frau vor sich betrachtete, die ihr gebannt lauschte, fühlte Hannah plötzlich Zuneigung. Vielleicht führte Gott sie ja schon auf den Weg einer gemeinsamen Freundschaft.
Hannah wollte ihrem Gast eine Erfrischung anbieten und holte den Beutel mit dem Kakao aus einem der Koffer. „Als Emily und ich klein waren, hat meine Mutter in einer Kakaofabrik gearbeitet, bis sie mir die Ausbildung finanzieren konnte. Ich verdanke ihr alles.“
„Hört sich an, als wäre sie eine wunderbare Frau.“ Miss Tucker lächelte, doch ihre Augen blickten traurig.
„Meine Mutter ist dafür verantwortlich, dass ich Kakao über alles liebe.“ Hannah hielt den Sack hoch. „Würden Sie vielleicht noch ein wenig hierbleiben und eine Tasse mit mir trinken? Ich brauche nur ein paar Minuten, um die Milch zu erwärmen.“
„Ich wünschte, ich könnte, aber Mr Hawkins wünscht, dass ich meine Sachen immer vorbeibringe, bevor er den Laden aufmacht.“ Miss Tucker erhob sich. „Vielleicht ein andermal.“
„Auf jeden Fall.“ Hannah lächelte. „Also, was schulde ich Ihnen für die Milch, Miss Tucker? Ich würde Sie gerne für die Woche im Voraus bezahlen, wenn Sie das nicht stört.“
„Ich bekomme nur zwanzig Cent von Ihnen, denn ich habe die Sahne abgeschöpft und sie zum Backen benutzt. Und nennen Sie mich doch bitte Cordelia.“
„Wunderbar. Ich bin übrigens Hannah.“ Sie reichte Cordelia die Münzen und brachte sie zur Tür. „Noch einmal vielen Dank für die Muffins. Ihr Bruder hat mir gestern so sehr geholfen und heute Morgen sind Sie es, die mir den Tag versüßen. Ich danke Gott, dass ich Sie beide kennengelernt habe, und würde mich freuen, wenn wir Freunde werden.“
„Sehr gerne“, sagte Cordelia aufrichtig. „Oh … J.T. hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass er mit den Regalen nicht vor heute Nachmittag fertig wird. Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie.“
„Nein, auf keinen Fall. Ich werde den ganzen Morgen mit Putzen beschäftigt sein. Wenn ich die Regale am Nachmittag bekomme, ist das wunderbar.“
Als Hannah Cordelia zum Abschied winkte, fiel ihr Blick auf den Stall auf der anderen Straßenseite. Ein lästiges Prickeln der Vorfreude machte sich in ihrem Magen breit, als sie daran dachte, Mr Tucker wiederzusehen. Dieser Mann brachte ihre Gefühle völlig durcheinander. Und eigentlich konnte sie eine solche Ablenkung überhaupt nicht gebrauchen, schalt sie sich. Trotzdem blieb das dumme Kribbeln.
* * *
Missmutig näherte sich J.T. der Schneiderei mit zwei Böcken unter dem einen und sechs Holzbrettern unter dem anderen Arm. Zweimal zu gehen wäre einfacher gewesen, doch er wollte diese Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Miss Richards stand auf dem Bürgersteig und wischte mit einem Lappen über das große Fenster ihres Ladens. Nach ein paar energischen Bewegungen tauchte sie den Lappen wieder in den Eimer neben sich. J.T. ließ die Bretter neben ihr fallen, dass sie laut polterten. Es machte ihm großen Spaß zu sehen, wie sie erschrocken aufsprang und quietschte.
Platsch!
Der beißende Geruch von Essigwasser stieg ihm in die Nase und hätte seine Augen tränen lassen, wenn sie nicht schon zuvor von einem klitschnassen Lappen getroffen worden wären. Der Lappen rutschte an seinem Gesicht hinunter, hinterließ eine schleimige Spur und platschte schließlich auf den Boden. Halb blind
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