Eine Lady nach Maß
ihre Schultern und halfen ihr, das Gleichgewicht wiederzufinden. Hitze stieg ihr ins Gesicht. So viel zu dem Thema, dass Mr Tucker es nicht mehr schaffen würde, sie aus der Fassung zu bringen. Zum zweiten Mal in zwei Tagen war sie in die Arme dieses Mannes gesunken. Kein Wunder, dass er es so eilig hatte, von ihr fortzukommen.
Hannah schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen und starrte deshalb auf sein Kinn. „Es tut mir leid, dass ich mich Ihnen schon wieder in die Arme werfe, Mr Tucker. Das war wirklich nicht meine Absicht.“
Seine Kehle hob und senkte sich in einer langsamen Bewegung, die Hannah seltsam faszinierend fand. Dann, bevor sie auch nur blinzeln konnte, ließ er sie so plötzlich los, dass sie beinahe wieder gestürzt wäre und räusperte sich.
„Ich … ähm … muss jetzt gehen.“ Er trat einen Schritt zur Seite und versuchte, sich an ihr vorbei durch die Tür zu quetschen.
Zum Glück war Hannah wieder bei Sinnen, bevor er es geschafft hatte. Sie musste ihn wohl oder übel noch um eine weitere Sache bitten.
„Dürfte ich Sie noch um einen letzten Gefallen bitten, Mr Tucker?“
Er hielt inne. Hannah hätte schwören können, dass sie ihn seufzen hörte.
„Ich würde Sie nicht behelligen, wenn Sie nicht der einzige Mann in der Stadt wären, den ich gut genug kenne, um ihn darum zu bitten.“
Er sagte nichts, sondern stand nur abwartend da. Hannah holte tief Luft und spuckte den Rest ihrer Frage förmlich aus.
„Ich hatte gehofft, dass ich mir ein paar Werkzeuge von Ihnen borgen könnte. Eine Wasserwaage und einen Schraubenzieher? Ich würde sie heute Abend zurückbringen oder spätestens morgen früh. Es wäre schön, wenn ich meine Regale heute noch an Ort und Stelle bringen und alles einräumen könnte, damit ich morgen früh eröffnen kann.“
Hannah starrte ihn an und wartete auf eine Reaktion. Er reckte das Kinn vor und räusperte sich, bevor er ihr antwortete.
„Es tut mir leid“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich muss mich um mein eigenes Geschäft kümmern. Ich kann nicht den Laufburschen für Sie spielen und den ganzen Nachmittag Regale aufhängen. Sie müssen jemand anderen fragen.“
Trotz ihres vorherigen Entschlusses, sich nicht mehr über ihn aufzuregen, konnte Hannah sich nicht beherrschen. Wütend ging sie auf ihren störrischen Nachbarn zu und pflanzte sich vor ihm auf. „Habe ich Sie denn darum gebeten, mein Laufbursche zu sein? Nein. Ich wollte mir lediglich ein bisschen Werkzeug von Ihnen ausleihen. Wenn Sie mir richtig zugehört hätten, hätten Sie das vielleicht verstanden. Ich bin durchaus allein in der Lage, meine Regale aufzuhängen, und brauche dafür keinen Mann. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Und ich bin sicher, dass Mr Hawkins mir die Werkzeuge verkauft, die ich brauche. Entschuldigen Sie, ich werde Sie nicht weiter belästigen.“
Sie trat einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen, aber er rührte sich nicht. Nach einem Augenblick wandte Hannah sich abrupt ab, stapfte zu ihrem Putzeimer und schnappte sich den Lappen, um die Fensterscheiben zu polieren. Eigentlich hatte sie die Fenster von innen schon geputzt, aber sie kam nicht an Mr Tucker vorbei, der wie festgewachsen in ihrem Laden stand.
Die Ladentür schlug zu, doch Hannah wollte sich nicht umwenden. Mr Tuckers Schritte klapperten laut auf dem hölzernen Bürgersteig und verklangen schließlich, als er auf der staubigen Straße weiterging. Sie verbot es sich, ihm durch das Fenster nachzusehen. Er hatte sich nicht entschuldigt, sich nicht einmal verabschiedet.
Wütend ließ Hannah den Lappen in den Eimer fallen. Es war ihr egal, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte. Doch ihre Entrüstung hielt nicht lange an, denn schnell mahnte ihr Gewissen, sodass sie beschämt den Kopf senkte.
Sie hatte kein Recht, Mr Tucker zu verurteilen, nur weil er ihr nicht helfen wollte. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie seit ihrer Ankunft nichts anderes getan, als seine Zeit in Anspruch zu nehmen. Offenbar war er mit ihrer Ankunft hier nicht einverstanden, doch sie durfte ihn nicht verurteilen. Er verdiente ihren Zorn nicht. Er hatte ihr in einer gefährlichen Situation beigestanden, hatte dafür gesorgt, dass seine Schwester sie mit frischer Milch versorgte, hatte ihr einen Tisch gebaut, ohne darum gebeten worden zu sein, und hatte ihr sogar umsonst Holz gegeben, das sie für ihre Regale verwenden konnte.
Hannah strich mit der Hand über eines der Bretter, die er an die Wand gelehnt
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