Eine Lady nach Maß
stellte er die Böcke ab. Sie fielen polternd um, doch darum konnte er sich jetzt nicht kümmern. Schnell zog er ein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab, während seine neue Nachbarin schallend lachte. Als er endlich wieder die Augen öffnen konnte, starrte er sie finster an.
„Es tut mir so leid, Mr Tucker.“ Sie hatte ihre Hände vor den Mund geschlagen und konnte sich ein weiteres Lachen nicht verkneifen. „Aber Sie dürfen sich nicht so an andere Menschen heranschleichen und sie dann erschrecken. Der Lappen ist mir einfach so aus der Hand geflogen.“ Sie demonstrierte es ihm, als wäre er gerade nicht selbst dabei gewesen.
„Vielleicht sollten Sie Ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit schenken.“
„Das werde ich versuchen. Ich verliere mich oft in meinen Gedanken, vor allem, wenn ich innerlich mit mir selbst verhandle.“ Sie legte ihren Kopf schief und warf ihm einen koketten Blick zu. „Was meinen Sie , Mr Tucker? Ist ein lavendelfarbener Morgenrock zu blass, um ihn ins Schaufenster zu stellen? Oder würde der einfache Schnitt hier mehr Damen anlocken als ein ausgefallenes Abendkleid?“
Er verdrehte die Augen, sodass sie wieder lachen musste.
„Wie auch immer. Ich will Sie damit nicht aufhalten. Sicher müssen Sie sich mit männlicheren Dingen beschäftigen.“
Leider konnte er sich im Moment beim besten Willen nicht an eine einzige dieser Tätigkeiten erinnern. Zu sehr genoss er es, zu beobachten, wie die Freude aus ihr heraussprudelte wie aus einer frischen Quelle.
Sie bückte sich, um den Lappen aufzuheben. Dabei bemerkte er, dass sie einen ähnlichen Lumpen um ihre Haare gewickelt hatte. Irgendeinen hässlichen Stoff mit grellen, orangefarbenen Punkten. Allein dieser Anblick hätte ihn das Grausen lehren können, doch nicht einmal das in Kombination mit dem einfachen Arbeitskleid, das Miss Richards trug, konnte ihn dazu bringen, seine Blicke abzuwenden.
Hatte seine Vergangenheit ihn denn nichts gelehrt? Schöne Frauen brachten nichts als Ärger – sie waren wie hübsche Hüllen, die wegbrachen, wenn das Leben ein bisschen schwieriger wurde. J.T. hatte sich geschworen, dass weibliche Schönheit nie wieder seinen Verstand verwirren sollte. Er wollte sich nur noch für eine Frau mit geistiger und geistlicher Tiefe interessieren. Eine Frau, auf die man sich verlassen konnte, die einem zur Seite stand. Niemand, der sich wie Blei an einen klammerte und einen noch tiefer hineinzog, wenn man Schwierigkeiten hatte.
„Eines Tages werde ich Sie dabei erwischen, wie Sie von Herzen lächeln, Mr Tucker“, sagte Hannah und drohte mit dem Zeigefinger in seine Richtung. „Und wenn ich das tue, nehmen Sie sich in Acht, denn dann werde ich triumphieren.“
„Wir alle brauchen ein Ziel im Leben, Miss Richards.“ J.T. legte sich zwei der Bretter auf die Schultern und sah auf sie herunter. „Meins ist, diese Regale aufzubauen, bevor der erste Schnee fällt. Geben Sie mir die Möglichkeit, das zu tun, oder schwätzen wir sinnlos weiter?“
Kapitel 6
H annah schüttelte den Kopf und schlich leise auf Zehenspitzen nach oben, damit Mr Tucker sie nicht beim Stampfen erwischen konnte. Wieder einmal hatte sein Verhalten sie maßlos geärgert, aber das musste sie ihm ja nicht zeigen.
In ihrem Zimmer stellte er die Bretter vorsichtig ab und machte sich wortlos an die Arbeit. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, den Tisch zu bauen. Hannah füllte eine Tasse mit Wasser. Als er fertig war, bot sie sie ihm an.
Wie immer zögerte er, nahm das Wasser dann aber doch an. Ihre streitlustige Seite jubelte in diesem Moment auf. Mr Tucker mochte sie vielleicht aus dem Gleichgewicht bringen, aber von nun an würde sie sich nicht mehr von ihm aus der Fassung bringen lassen. Sie würde ihm die Stirn bieten und wer weiß, vielleicht würde sie ja wirklich bald jenes besagte Lächeln sehen.
„Danke.“ Er reichte ihr die Tasse zurück und ging zur Tür. „Ich bringe noch die Regalbretter herein, dann bin ich weg.“
Schnell trank Hannah selbst einen Schluck Wasser, stellte die Tasse in ihrem improvisierten Spülbecken ab und eilte dann hinter Mr Tucker die Treppe hinunter. Bis sie unten war, war er schon wieder in ihrem Laden. Hannah stemmte sich gegen die Tür und griff nach dem Knauf, um sie aufzudrücken, doch in diesem Moment gab die Tür nach, weil Mr Tucker sie ihr öffnen wollte. Hannah taumelte über die Schwelle und stürzte auf ihn.
Starke und gleichzeitig überraschend sanfte Hände ergriffen
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