Eine Lady nach Maß
hatte. Zuerst fasste sie es nur vorsichtig an, um keinen Splitter zu bekommen, aber schnell merkte sie, dass das Holz völlig glatt war. Sie sah sich die Bretter genauer an. Sie alle waren sorgfältig geschliffen und auf die gleiche Länge geschnitten worden. Hannah schüttelte erstaunt den Kopf. Mr Tucker hatte das Holz tatsächlich bearbeitet, bevor er es ihr gebracht hatte.
Wieder meldete sich ihr schlechtes Gewissen.
Warum musste dieser Mann so widersprüchlich und undurchschaubar sein? Er handelte großzügig und freundlich und tat weit mehr, als die Nachbarschaftspflicht gebot. Und trotzdem war er mürrisch und unfreundlich und brachte sie zur Weißglut. Welcher Seite seines Charakters sollte sie Glauben schenken?
Ein dumpfer Schlag ertönte draußen vor ihrer Tür. Sie hätte das Geräusch wahrscheinlich nicht gehört, wenn sie nicht so dicht neben der Tür gestanden hätte. Hannah trat ans Fenster und sah, wie sich Mr Tucker von ihrem Haus entfernte. Schnell öffnete sie die Tür und wollte ihm eine Entschuldigung hinterherrufen, doch sie stolperte über etwas, das vor der Tür lag. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war Mr Tucker schon in der Wäscherei nebenan verschwunden.
Mit schmerzendem Fuß und ärgerlich über die soeben verpasste Gelegenheit humpelte sie zurück und sah sich an, was sie zum Stolpern gebracht hatte. Erschrocken biss sie sich auf die Lippe.
Vor ihren Füßen lagen eine Wasserwaage und ein Schraubenzieher.
Sie hob die Werkzeuge auf und schaute noch einmal den Weg entlang, den Mr Tucker gegangen war. Sie würde ihn wahrscheinlich nie verstehen, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie gerade eine Entschuldigung bekommen hatte. Eine Entschuldigung, die er mit Worten niemals hätte ausdrücken können.
* * *
Eine Wolke heißen Dampfes schlug J.T. entgegen, als er die Wäscherei betrat. Er nahm den Hut vom Kopf und schloss die Tür hinter sich. Im Stillen wünschte er sich, er könnte sie auflassen, damit eine kühle Brise in den Raum kam, doch Louisa würde ihm gehörig die Meinung sagen, wenn er dafür verantwortlich wäre, dass Straßenstaub auf ihre frisch gewaschene Wäsche kam.
„Abgeben oder abholen?“, rief Louisa aus dem Hinterzimmer.
„Ich bin’s, Louisa.“ J.T. zögerte, als er die verzogenen Regale und die Risse in der Wand sah. Das Dach war wahrscheinlich auch undicht. Wenn er für sie und ihre Familie keine neue Unterkunft finden konnte, musste er diese hier, so gut es ging, reparieren. Doch das würde schwierig werden, ohne Louisas Stolz zu verletzen.
„Komm nach hinten, J.T.“
Nachdem ihr Mann vor zwei Jahren an Tuberkulose gestorben war und sie mit drei Kindern zurückgeblieben war, hatte Louisa James ihre Farm verkauft und dieses Haus gemietet. Trotzdem hatte sie kaum noch Geld übrig gehabt, um davon zu leben. Doch mit dem Waschen von Hosen und dem Ausbessern von Hemden konnte sie sich und ihre Kinder ernähren. J.T. bewunderte ihren Mut und ihre Stärke, auch wenn es genau diese Stärke war, die sie seine Unterstützung immer wieder ablehnen ließ.
Er bahnte sich seinen Weg durch den Raum, vorbei an Tischen, auf denen gewaschene und gebügelte Kleidungsstücke lagen, die nur darauf warteten, von ihren Besitzern abgeholt zu werden. Er ging vorbei an Waschschüsseln und zusammengeklappten Wäscheständern, auf die man die Wäsche hängen konnte, wenn es regnete. Als er den nächsten Raum betrat, fand er Louisa über ihren Bügeltisch gebeugt, wo sie gerade die Falten aus dem Kragen eines weißen Männerhemdes entfernte. Mit routinierten Bewegungen setzte sie das Eisen auf den Herd, nahm den Griff ab und befestigte ihn an einem anderen, heißen Eisen. Die sechsjährige Molly reichte ihrer zwei Jahre älteren Schwester Tessa das fertige Hemd und legte ihrer Mutter dann das nächste hin. Tessa sah auf und lächelte J.T. fröhlich an.
„Hallo, Mr Tucker. Danny wartet draußen auf Sie. Er hat die kleinen Teile aussortiert, wie Sie es wollten, und nur die großen aufgehoben.“
Wie das Mädchen es schaffte, sich zu unterhalten und gleichzeitig die Hemden perfekt zusammenzulegen, war J.T. ein Rätsel.
„Danke, Kleine.“ Er zwinkerte ihr zu und sie kicherte.
Molly zwickte er in die Nase, als er an ihr vorbeiging und Louisa noch einmal zunickte. Louisa James war dünn und erschöpft, ihre Hände rot und rissig von der ständigen Arbeit. Feuchte Strähnen ihres aschblonden Haares klebten ihr im Gesicht. Doch noch nie hatte J.T. ein Wort der
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