Eine Lady zu gewinnen ...
Brot in seine Suppe tunkte. »Solche Burschen muss man hart rannehmen.«
Virginia verbiss sich ein Lächeln. Sosehr er auch getobt haben mochte, so hatte Poppy doch, trotz aller Drohungen mit dem Rohrstock, weder sie noch Roger jemals geschlagen.
»Papa hätte möglicherweise die Wahrheit aus ihm herausgeprügelt«, erwiderte Mrs Masters. »Aber Mr Virgil war ein friedliebender Gelehrter, der es dabei beließ, Gabe eine Predigt darüber zu halten, dass Stehlen eine Sünde sei. Er zitierte Bibelverse und brachte schließlich sogar die Geister unserer toten Eltern ins Spiel. Er sagte, dass sie ihn vom Himmel herab beobachteten und von ihm enttäuscht seien.«
»Das brachte Gabe erst recht dazu, sich stur zu stellen«, sagte Lord Jarret. »Er weigerte sich, auch nur ein Wort zu sagen.«
Virginia konnte das gut nachempfinden. Ihr Kindermädchen hatte dasselbe bei ihr versucht, als sie klein war, und es hatte sie immer wütend gemacht. Wenn ihre Eltern gewollt hätten, dass sie brav sei, so hatte sie gedacht, dann hätten sie nicht weggehen dürfen. Der Tod war damals etwas gewesen, was sie nicht wirklich verstanden hatte. Sie hatte sich einfach im Stich gelassen gefühlt. Er hatte sicherlich genauso empfunden.
Gegen ihren Willen stieg eine Woge von Mitgefühl in ihr auf. Nachdenklich löffelte sie ihre Suppe. Manchmal vergaß sie, dass sie den Verlust ihrer Eltern gemeinsam hatten. Er war zum Zeitpunkt ihres Todes etwas älter als sie gewesen, aber das musste es für ihn nur noch schlimmer gemacht haben. Sie hatte wenigstens praktisch keine Erinnerungen mehr an ihre Eltern.
»Schließlich erklärte Mr Virgil ihm, dass er nicht nach unten zum Essen dürfe, ehe er seinen Diebstahl nicht gestanden habe«, fuhr Mrs Masters fort.
Jetzt nahm Gabriels Großmutter den Faden der Erzählung auf. »Er hielt den ganzen Heiligabend und den Weihnachtstag über durch. Der kleine Sturkopf weigerte sich, irgendetwas zuzugeben – er wollte aber auch nicht lügen. Ich erfuhr von der Sache erst, als er nicht zum Weihnachtsessen erschien. Mr Virgil hatte mir Gabriels Missetat verheimlicht, da er fürchtete, entlassen zu werden, weil er mit dem Jungen nicht zurechtkam.«
»Sobald Großmutter Bescheid wusste«, fügte Lord Jarret hinzu, »sagte sie Gabe, dass das, was er getan hatte, unrecht gewesen sei und dass sie von seinem Weihnachtsgeld in der Bäckerei in Ealing einen neuen Plumpudding kaufen würde. Dann verpasste sie ihm eine Tracht Prügel für den Diebstahl. Von einem Geständnis war nicht mehr die Rede. An diesem Punkt war ihr klar, dass sie ihn niemals dazu bringen würde, es zuzugeben.«
»Weil er es nicht getan hat«, sagte eine leise Stimme am unteren Ende des Tisches.
Alle Augen richteten sich auf Lady Celia.
»Celia«, sagte Gabriel leise, »es ist nicht mehr wichtig.«
»Doch«, sagte sie erregt, den Blick fest auf ihren Bruder gerichtet. »Sie hatten dich all die Jahre zu Unrecht im Verdacht, und ich halte das nicht mehr aus.« Sie schaute zu ihrer Großmutter hinüber. »Gabe hat den Pudding nicht genommen. Deshalb hat er geschwiegen. Ich habe ihn gestohlen.«
Die ganze Tischgesellschaft schien ebenso überrascht wie Virginia.
»Aber die Krümel«, wandte Mrs Plumtree ein.
»Er hat sie auf dem Dachboden verstreut, um meinen Diebstahl zu vertuschen«, sagte Lady Celia. »Als er mich in der Küche ertappte, hatte ich den größten Teil des Puddings schon gegessen. Ich hatte Hunger, und da war ein Plumpudding. Ich begriff nicht einmal, dass er für das Weihnachtsessen war.«
»Du warst ja kaum fünf Jahre alt«, bemerkte Mrs Masters freundlich.
»Als Gabe mich dabei erwischte, wie ich mich über den Pudding hermachte, schimpfte er mit mir, und ich brach in Tränen aus.« Lady Celia warf Virginia einen schuldbewussten Blick zu. »Gabe konnte es noch nie ertragen, ein Mädchen weinen zu sehen.«
Mit übervollem Herzen blickte Virginia zu Gabriel hinüber. Mit roten Ohren starrte er in seine Suppe. Wenn er es auch genoss, bei einem Rennen im Mittelpunkt zu stehen, so schien er die Aufmerksamkeit im Familienkreis keineswegs als angenehm zu empfinden.
Seine offensichtliche Verlegenheit berührte ihr Herz.
»Wie dem auch sei«, fuhr Celia fort, »er hörte die Köchin kommen, also ergriff er meinen Arm und die Überreste des Puddings, und wir rannten fort.«
Mrs Plumtree starrte ihren Enkel an. »Warum hast du Celia nicht einfach in der Küche gelassen? Die Köchin wäre wütend gewesen, aber Celia war immer
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