Eine lange dunkle Nacht
Teresa war wieder enttäuscht, als die Geschichte erneut zum Stillstand kam. Noch immer erzählte Free Johns Geschichte seltsam gleichgültig und distanziert. Aber gleichzeitig klang in seinen Worten eine sonderbare Leidenschaft durch, die sich Teresa nicht erklären konnte. Es war so, als würde Free die Geschichte aus zwei Perspektiven erzählen. Je eine für jeden seiner Zuhörer, sinnierte Teresa.
»Ich will hören, wie es weitergeht«, forderte sie ungeduldig.
Free sah sie an. »Ich denke, wir sollten irgendwo anhalten und etwas essen«, sagte er.
Sie waren jetzt seit drei Stunden unterwegs. Der Tank war noch halbvoll, doch vielleicht war es keine schlechte Idee, ihn aufzufüllen. Besonders hungrig war sie allerdings nicht, dachte Teresa.
»Wo sollen wir anhalten?« fragte sie.
»Vielleicht bei einem Seven-Eleven«, sagte Poppy von hinten. »Oder an einer AM-PM-Tankstelle. Oder an einem Stop'N'Go.« Während Free erzählt hatte, hatte sie keinen Ton von sich gegeben. Sie hatte sich nicht einmal bewegt. Free lächelte über ihre Vorschläge.
»Meine Lieblingsläden«, sagte er.
»Meinetwegen können wir ruhig bei so was anhalten«, sagte Teresa. Free nickte bloß. Sie fügte hinzu: »Ist John wieder ins Gefängnis gekommen?«
»Nein«, sagte er.
»Wann hat er Candy wiedergesehen?« fragte sie.
»Hat dir Poppy doch schon gesagt«, brummte Free. »In einer finsteren, stürmischen Nacht.«
»War das viel später?« fragte Teresa.
Free schien genervt. »Später als was? Nachdem er mit Heroin anfing? Nachdem Candy ihr Baby bekam? Dies sind alles relative Ereignisse, die nicht unbedingt miteinander zusammenhängen. Die Zeit vergeht nicht für jeden gleich. Wenn man Schmerzen hat, vergeht sie wie in Zeitlupe. Und John hatte immer Schmerzen. Für ihn schien die Zeit beinahe stillzustehen.«
»Für Candy verging die Zeit auch nicht gerade mit Lichtgeschwindigkeit«, sagte Poppy.
Free wandte sich zu ihr um. »Du meinst doch, sie sei so glücklich gewesen, nachdem sie ihr Baby bekommen hatte?«
»Ich hab' gesagt, sie hätte ihr Baby über alles geliebt«, erwiderte Poppy. »Man kann lieben und trotzdem völlig verzweifelt sein. Für gewöhnlich geht dies Hand in Hand.«
Free hatte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen. Er drehte sich wieder nach vorn um und legte Teresa eine Hand aufs Bein. Seine Finger waren angenehm warm. Vielleicht war es auch seine Elektrizität, seine Anziehungskraft, die von ihrem Körper Besitz ergriff. Es war nicht zu leugnen, daß sie ihn immer attraktiver fand, derweil sie hier neben ihm saß und seinen Worten lauschte. Offensichtlich hatte er keine Liebesbeziehung mit Poppy. Und wenn doch, war es die seltsamste Beziehung, die sich Teresa vorstellen konnte. Free lächelte sie an.
»Ich will das Ende deiner Geschichte hören«, sagte er. »Alles, was zwischen dir und Bill passiert ist.«
Die Art und Weise, wie er alles betont hatte, bereitete ihr Unbehagen, doch sie ließ sich nichts anmerken. Schließlich gab es nichts, dessen sie sich schämen mußte, dachte sie. Sie hatte die Absicht, ihnen alles zu erzählen, was geschehen war, zumindest alles, an das sie sich erinnern konnte.
Aber es ist doch erst heute abend geschehen. Selbstverständlich kann ich mich an alles erinnern.
Teresa faßte sich an die Stirn und fühlte wieder, wie feucht und heiß ihre Haut war. Sie mußte Fieber haben – das war wohl der Grund für ihre Gedächtnislücken. Sie konnte nicht genau sagen, was vor ihrem überstürzten Aufbruch passiert war. Aber beim Erzählen würde ihr alles wieder einfallen, redete sie sich ein, und wenn nicht, halb so schlimm. Sie hatte genug Fakten parat, um Free und Poppy davon zu überzeugen, daß Bill ein gemeiner Kerl und Rene ein Miststück war.
»Ich dachte, du willst erst etwas essen«, sagte Teresa.
»Will ich auch«, sagte Free. »Aber dann bist du mit erzählen dran. Und danach besuchen wir meine Mutter.« Er lächelte wieder. »Du wirst sie mögen. Sie wohnt in einem alten Steinhaus am Meer. Sie kann wahrsagen.«
Teresa lachte. »Glaubst du etwa an solches Zeug?«
Free stimmte in ihr Lachen ein. »Es gibt soviel Unerklärliches zwischen Himmel und Erde, wieso sollte ich nicht daran glauben? Wirklich, du mußt dir von ihr unbedingt die Zukunft voraussagen lassen.«
»Ich glaube, die will ich gar nicht wissen«, entgegnete Teresa.
Free starrte sie unverwandt an. »Das sagen sie alle.«
Teresa hörte auf zu lachen. »Wen meinst du?«
»Die Kunden meiner
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