Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
Diktatur, dem Hitlerreich, zusammenhängen könnten. Mit anderen Worten: Wir Deutschen, ein großes Volk mittlerweile im Zentrum Europas, werden durch die Verarbeitung unserer Erinnerungen bzw., wie ich auch sagen würde, durch unsere Trauerarbeit, dazu beitragen müssen, dass das gegenwärtige Jahrhundert die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht wiederholt. Das 20. Jahrhundert ist, so fürchte ich, das grausamste und destruktivste Jahrhundert seit unserer christlichen Zeitrechnung gewesen, wenn nicht überhaupt. Trotz aller Aufklärung war es von Vorurteilen, Projektionen und Wahnideen geprägt. Man erinnere sich nur daran, dass Denise Diderot 1772 das umfangreiche Werk der Aufklärung, die Enzyklopädie, mit dem letzten der 28 Bände abschloss. 160 Jahre später, ab 1933 war von Aufklärung nichts mehr zu spüren. Die apokalyptische Vorstellung, dass das Böse im Blut liegt, führte zu dem kaltblütigen, mit allen Mitteln geplanten und durchgeführten Mord an Millionen hilfloser Frauen, Kinder und Männer. Die für diese Verbrechen verantwortliche Diktatur Hitlers ist beiden deutschen Staaten bekannt, auch wenn nur noch wenige Überlebende aus dieser Zeit unmittelbare Zeugen sind.
Ich erinnere daher nochmals daran, dass 1945 alle Deutschen, im Osten wie im Westen, mit dem völligen Zusammenbruch ihrer »Ideale« konfrontiert waren. Hitler war tot, Deutschland lag in Trümmern, die Deutschen wurden mit den unvorstellbaren Verbrechen konfrontiert, die die Nazis, die SS verübten, aber auch Teile der deutschen Wehrmacht, ohne die Hitler seinen Angriffskrieg gar nicht hätte führen können. In der Mehrzahl verhielten sie sich dennoch, als ob es das »Tausendjährige Reich« und seine Verbrechen nie gegeben hätte, eine Haltung, die sich mit Beginn des Kalten Krieges und dem Wirtschaftswunder im Westen noch verfestigte. Mit dem Führerwahn brach die Idealisierung der gefallenen Soldaten als »Helden« zusammen. Die Männer, Väter und Söhne, aber auch die Frauen und Kinder in den bombardierten Städten waren umsonst gestorben. Diese Wahrheit zu ertragen war schwer, sie wurde wie der Völkermord wenn nicht verdrängt, so doch entwirklicht. Den sinnlosen Tod von so ungezählten Menschen zu betrauern schien nicht möglich zu sein.
Nach ihrem ersten Besuch in Deutschland sprach Hannah Arendt schon 1950 von einer Weigerung der Deutschen zu trauern. Was aber kann man unter Trauern verstehen? Trauer heißt, sich zu erinnern, seinen Verlust vor Augen zu haben, sich mit ihm auseinanderzusetzen, sich mit den Schmerzen zu konfrontieren, die der Verlust bereitet. Dazu war offenbar der größte Teil der Deutschen in Anbetracht der Sinnlosigkeit einerseits und der Grausamkeit andererseits, mit der die zu betrauernden Toten gestorben waren, nicht fähig. Sich dieser Sinnlosigkeit und Destruktivität gegenüberzustellen, sich mit ihr auseinanderzusetzen hätte wahrscheinlich zur Folge gehabt, dass eine schwere Depression den Lebenswillen vieler damals lebender Menschen endgültig gebrochen hätte. Gegen das Gefühl einer totalen Wert- und Sinnlosigkeit mussten offenbar Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Verdrängung, Derealisierung aufgebaut werden.
Was hat all das mit dem Thema der Grenzüberschreitung zu tun? Wenn es je eine Grenzüberschreitung der solidarischen Achtung des Menschen vor der Würde des anderen Menschen gegeben hat, dann ist sie in diesen zwölf Jahren des Hitlerreichs geschehen. Die Nazitäter, hinter denen der größte Teil des kriminalisierten Volkes steht, das den Solidaritätsbruch, d.h. die Aufhebung der Achtung des Mitmenschen vollzogen hat, werden heute oft mit individuellen kriminellen Tätern einer durchschnittlich bürgerlich-demokratischen Gesellschaft gleichgesetzt. Dass die Täter zur Zeit Hitlers mit den Kriminellen einer bürgerlich-rechtlichen Gesellschaft wenig zu tun hatten, wird bis heute übersehen. Die Täter in Auschwitz waren zugleich Massenmörder und Ungeheuer und denkbar angepasste Bürger der Hitlerdiktatur. Sie waren Kinder- und Tierliebhaber, neigten zur Sentimentalität, das Vaterland stand für sie über allem. Demgegenüber waren Gewissensfragen sekundär, wenn nicht überhaupt lächerlich. Wenn es um Menschen ging, die Opfer der Nazipropaganda und deren Projektionen waren, gab es für diese kein Gefühl der Mitmenschlichkeit mehr. Einen solchen katastrophalen Bruch der Solidarität durch kaltblütig geplante, mitleidlos technisierte Vernichtung zwischen allen, die ein
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