Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
ist ohne Bestand, weil nicht vermocht wurde, den anderen als anderen wahrzunehmen und zu achten, sondern weil ihre Basis aus projizierten Selbstidealen oder abgewehrtem Selbsthass zusammengesetzt ist.
Grenzüberschreitungen
Zum Thema »Grenzüberschreitungen« fallen mir widersprüchliche Inhalte und unmittelbar mein Leben betreffende Erinnerungen ein. Ich bin in einem Ort geboren, der nahe der Grenze zwischen Dänemark und Deutschland lag. Diese Grenze habe ich seit meiner frühen Kindheit unzählige Male überschritten. Sie bedeutete mir weit mehr als nur die konkrete territoriale Abgrenzung zweier Länder voneinander. Grenzüberschreitung war für mich mit der damit wechselnden Konfrontation zweier unterschiedlicher nationaler Einstellungen verbunden, die nicht immer freundlich, ja oft feindselig entwertend einander gegenüberstanden. Dänemarks einziger Gegner in den letzten Jahrhunderten war Deutschland, gegen das es im 19. Jahrhundert zwei Kriege verlor. Nach dem zweiten deutsch-dänischen Krieg 1864 musste Dänemark ein Drittel des bis dahin zu ihm gehörenden Territoriums abgeben.
Ich möchte zunächst ein wenig auf meine Kindheit und Jugend eingehen, um die vielfache Bedeutung von Grenzüberschreitungen, wenn auch auf sehr persönliche Weise, zu veranschaulichen. Meine Mutter war Deutsche, mein Vater Däne. Für ihn, wie für Gleichgesinnte und seine seit Generationen dänisch gesinnte Familie, war die Wiedervereinigung mit einem kleinen Teil des 1864 verloren gegangenen Gebiets aufgrund der Volksabstimmung von 1920 Anlass zu Freude und Genugtuung. Die preußische bzw. deutsche Herrschaft in Nordschleswig bzw. Sonderjylland zuvor war repressiv gewesen wie im Elsass. In den Schulen durfte nur deutsch unterrichtet werden, mein Vater musste in Flensburg sein Abitur machen und in Berlin studieren, um in seiner Heimat seinen Beruf als Arzt ausüben zu können. Sein Vater war Lehrer und Besitzer eines Gutshofs zugleich. Er gründete nach der Wiedervereinigung 1920, als Flensburg durch die Volksabstimmung an Deutschland gefallen war, die »Südschleswigsche Bank«, um die dänische Minderheit dort zu unterstützen. Von dem meinem Vater in Flensburg gebliebenen Geld, das 1930 durch Brüning »eingefroren« wurde, d.h. nur in Deutschland ausgegeben werden konnte, habe ich die Jahre bis zum Abitur und später mein Studium in Deutschland bezahlen können.
Meine Mutter war eine Deutsche und verehrte Bismarck. Der wiederum war nach dem verlorenen Kriege von 1864 nicht nur für den großen Gebietsverlust Dänemarks verantwortlich, sondern auch für die Unterdrückung der Dänen in der Heimat meines Vaters. Dass die Ehe meiner Eltern nicht konfliktfrei verlaufen konnte, war also durch die Probleme von Grenzen und deren einengende oder auch zur Überschreitung verleitende Wirkung quasi vorprogrammiert.
Vor einigen Jahren wurde mir anlässlich einer Diskussion über »Die Unfähigkeit zu trauern« [95] von Alexander Mitscherlich und mir vorgeworfen, der Inhalt dieses Buches sei nicht frei von untergründigem Hass auf die Deutschen. Das sei wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass ich mich mit meinem dänischen Vater identifiziert hätte. Ich habe das, nachdem ich mich jahrelange daraufhin befragt hatte, ob mich meine Affekte und mögliche unbewusste Motive beeinflussten, energisch zurückweisen können. Mein Vater hat zwar die Nazis verabscheut, aber so wenig wie ich die Deutschen jemals gehasst. Ich selber habe mich viel mehr als mit meinem Vater mit meiner Mutter identifiziert und mich wie sie als Deutsche gefühlt. Sie hat mir die deutsche Kultur nahegebracht. Das Volk der Dichter und Denker war für sie das Größte in der Welt – das Idol schlechthin. Als ich 1932 nach Deutschland kam, stand ich aber absolut naiv einer mir fremden Mentalität gegenüber. Meiner Mutter mag ich es daher später unbewusst übelgenommen haben, dass mir im Laufe der Nazizeit das Idol meiner Kindheit – unvorbereitet, wie ich war – so völlig verloren ging und damit natürlich auch ein wesentliches Stück meines eigenen Werts. Seine Illusionen, eigene Begrenztheit und Kritiklosigkeit, seine Vorurteile zu erkennen und wahrzunehmen, welche Opfer der nationalistische Wahn zur Folge hatte, ist für jeden denkbar schmerzlich und war es auch für mich. Aber die Trauer über diese Verluste ist wahrscheinlich die Vorbedingung dafür, über seinen Schatten, seine Denkbarrieren springen zu lernen, sich grenzüberschreitend in den anderen
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