Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
menschliches Antlitz tragen, hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Menschen, die sich in die Opfer dieser Projektionen einzufühlen vermochten und wagten, sich mitleidend für sie einzusetzen, wurden als Verbrecher angesehen und nicht selten auch mit dem Tod bestraft.
Als Folge unserer Abwehr einer kritischen Trauer- und Erinnerungsarbeit und damit auch von Einfühlung sind wir uns dessen wenig bewusst, dass die Täter sich anders und an anderes erinnern als die Opfer, wie auch die Nachkommen der Täter sich anders und an anderes erinnern als die erste und zweite Generation der Opfer. Von ihnen leiden viele bis in die Gegenwart unter der Erinnerung der tödlichen Bedrohung, der Vernichtung und Erniedrigung. Diese Angst hat das Leben mancher unter ihnen für immer seelisch zerstört. Schicksal und Geschichte Israels sind von der Erinnerung an den Völkermord nach wie vor in hohem Maße beeinflusst.
Nicht nur den Tätern und Mitläufern, auch ihren Kindern und Enkeln fällt das Vergessen leichter. Sie waren nicht dem Trauma der totalen Hilf- und Machtlosigkeit ausgesetzt. Dafür leiden sie unter den Folgen einer nicht verarbeiteten Schuld der Eltern und Großeltern, die sie unbewusst übernehmen, aber gleichzeitig abwehren, weil sie ihren Selbstwert zu sehr bedroht. Die zwiespältigen Gefühle, die die Nachkommen für die sich selbst belügenden Elternfiguren empfinden, ist wiederum Anlass zu weiteren Schuldgefühlen und eigener Entwertung, da Kinder sich mit dem Wert oder Unwert, den sie ihren Eltern geben, unweigerlich identifizieren, auch wenn sie diese Identifikation abwehren oder in ihr Gegenteil zu verkehren versuchen. Als Folge stellt sich oft ein untergründiger quälender Selbsthass ein, von dem sich viele junge wie auch ältere Menschen nur durch Verschiebung auf andere, Ausländer, Juden, Asylbewerber, zu befreien vermögen. Anstatt uns selbst, verachten wir dann oft genug auch unsere »Geschwister« in den neuen Bundesländern.
Dass wir unsere Gefühle von Schuld und Scham, ganz zu schweigen von Selbsthass, zu verdrängen suchen, dass Täter wie Opfer ohne partielle Verdrängung nicht leben können, dessen bin ich mir jedoch sehr bewusst. Dass die nachfolgenden Generationen heute verlangen, an den unmenschlichen Taten ihrer Vorfahren nicht schuld zu sein, ist verständlich, aber – um es zu wiederholen – schützt sie das Betonen der eigenen Unschuld vor der narzisstischen Angst, als Deutsche nichts wert zu sein? Die historische Verantwortung kann uns und ihnen niemand abnehmen. Das ist tragisch, aber wir müssen uns damit abfinden.
Grenzüberschreitungen im zerstörerischen Sinne gab es im Deutschland unserer jüngeren Vergangenheit mehr als genug. Diese Vergangenheit zu vergessen wäre lebensgefährlich, ihre unmenschlichen »Ideale«, ihre Einfühlungsunfähigkeit und Vorurteile könnten unsere Seele von neuem beherrschen. Man kann das nie wissen. Schließlich und endlich war es ein Kulturvolk, das mitten im 20. Jahrhundert erneut der Barbarei verfiel, das dem Denken und Nachdenken abschwor. Es wäre ein sträflicher Leichtsinn, heute zu behaupten, so etwas könne nie wieder passieren. Erinnerung befreit, und zwar deswegen, weil wir so leicht nicht wiederholen können, was uns bewusst bleibt, womit wir uns konfrontiert und auseinandergesetzt haben. Ohne Erinnerung bleibt die Zukunft der Vergangenheit verhaftet.
Ich habe aber nicht vergessen, dass es positive Grenzüberschreitungen gibt, sicherlich nicht nur die Aufhebung der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern auch die Aufhebung, zumindest das Bemühen um die Aufhebung von Grenzen und Begrenzungen in unseren Köpfen, in unserem Denken, von denen unser Handeln bestimmt wird. Diese Art der denkenden Grenzüberschreitungen hatte sich die Aufklärung zu ihrer Aufgabe und ihrem Ziel gemacht. Dass sie dabei oft allzu rational, ja rationalisierend vorging, wie wir Psychoanalytiker sagen würden, hat zur weitergehenden Aufklärung der Aufklärung geführt, nämlich der Aufklärung über das Unbewusste, über die Tatsache verdrängter Motive, die den Verhaltensweisen, dem Handeln, den festgefahrenen Vorurteilen, dem Denken überhaupt oft zugrunde liegen und diese bestimmen.
Der Begriff der Enttabuisierung wird, wenn es darum geht, eine Überschreitung bisheriger Grenzen des kritischen Denkens in aufklärerischer Absicht zu wagen, vielfach positiv verwendet. Allerdings begreifen sich heute auch manche
Weitere Kostenlose Bücher