Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
aufeinanderfolgenden deutschen Staaten offenbar eine gewisse Lust verspürten, einander zu denunzieren. Das mag eine Folge alter autoritärer Bedürfnisse sein, sich beim mächtigen »Vater« beliebt zu machen. Die »vaterlose Gesellschaft« [96] , die Alexander Mitscherlich bereits in den sechziger Jahren diagnostizierte, scheint doch immer wieder von neuem Autoritarismus durchbrochen zu werden.
Die über vierzig, ursprünglich von einer Siegermacht aufgezwungenen Jahre der wiewohl von Antifaschisten begründeten Diktatur in Ostdeutschland sind letztlich ohne Krieg und Massenmord verlaufen und friedlich zu Ende gegangen. Der fast 45 Jahre währende, real existierende Sozialismus im Osten, eine Folge des überaus gewalttätigen Kriegs mit mehr als 50 Millionen Toten, lässt sich beim besten Willen nicht mit den vorhergehenden zwölf barbarischen Jahren des Nazireichs, ohne deren Existenz die DDR nach dem Krieg ja nie entstanden wäre, vergleichen. Der Fall der Mauer 1989, eine der wichtigsten Grenzüberschreitungen unserer jüngsten Geschichte, war die Folge des ökonomischen Zusammenbruchs der Sowjetunion und der diese stützenden, psychisch tief reichenden Überzeugungen. Ich erwähne das, um darauf aufmerksam zu machen, dass trotz Überschreitung, trotz der Aufhebung von Landesgrenzen die psychischen Grenzen bestehen bleiben konnten. Noch heute verstehen sich »Ossis« und »Wessis« häufig nicht besonders gut. Der erwähnte falsche Vergleich zwischen 45 Jahren einer erzwungenen Diktatur im Osten Deutschlands und zwölf Jahren einer von fast allen Parteien legalisierten, vom größten Teil des deutschen Volks gewählten und bejubelten Diktatur trägt dazu bei, dass »wir« im Westen uns in die Situation derer im Osten, die wir nur behaftet mit vielen Vorurteilen wahrzunehmen bereit sind, kaum einzufühlen vermögen.
Was den Mangel an Einfühlung in die Situation unserer Schwestern und Brüder im Osten anbetrifft, so hängt diese nicht nur mit einer Geschichtsklitterung in Bezug auf die DDR zusammen, sondern auch damit, dass keine Sensibilität dafür aufgebracht wird, was nach dem Zusammenbruch der Naziideologie mit der darauf folgenden, zunächst aufgezwungenen Ideologie des »real existierenden Sozialismus« im Laufe der Zeit psychisch gemacht wurde. Sie wurde, zumindest teilweise, verinnerlicht. Das Leben von zwei Generationen, deren Erfahrungen und deren Vergangenheit, hat vom Westen aus gesehen kaum einen Wert. Das bedeutet natürlich für die, die es trifft, eine schwere psychische Kränkung, angesichts deren es Politiker nicht verwundern sollte, dass die PDS noch lange nach der Wende (»diese Kommunisten«, wie sie Herr Weigel mit dem Vokabular des Kalten Krieges verächtlich beschimpfte) in den neuen Bundesländern einen solchen Zulauf erhielt. Auch wir im Westen haben uns mit der Demokratie, dem Denken der Siegermächte, gegen die wir doch kurz vorher noch einen überaus blutigen Krieg geführt hatten, identifiziert und daraus viel Positives für unsere Entwicklung bezogen.
Das durch Einfühlungslosigkeit geprägte Verhalten von Mensch zu Mensch kommt einer psychologischen Grenzüberschreitung nahe. Die Grenzen des anderen nicht zu achten, seine für ihn seit vielen Jahren gewohnten Denk- und Verhaltensweisen schlicht zu entwerten, ist eine Art psychologischer Hausfriedensbruch, ein taktloser, im psychologischen Sinne auch gewalttätiger Umgang mit der seelischen Verfassung des anderen. Wir im Westen haben psychologisch nicht angeklopft am östlichen Hause, haben nicht gewartet, haben nicht versucht, uns deren Bewohnern verständlich zu machen und sie zu verstehen, sondern wir sind quasi eingebrochen und haben verlangt, dass sie nach 45 Jahren völlig unterschiedlicher gesellschaftlicher und individueller Lebensgewohnheiten sich genauso verhalten und denken sollen wie wir.
Zurück zur Forderung Jorge Sempruns in seiner Friedenspreisrede, wir Deutschen seien das einzige Volk, das beide Diktaturen des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib durchgemacht habe und deswegen wie kein anderes dazu verpflichtet sei, diese Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu verstehen und zu untersuchen. Dass diese Forderung nur beschränkt erfüllbar ist, habe ich darzustellen versucht.
Was wir aber können, ist Folgendes: verstehen, in welcher Form die Ostdeutschen den Sozialismus, ihre Diktaturerfahrungen verarbeitet haben und wie weit und wie tief diese spezifischen Erfahrungen mit dem Erleben und den Folgen der vorhergehenden
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