Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
Liebesleben nicht auseinanderhalten. Der wesentlich ältere und verheiratete Liebermann, ein bekannter polnischer Sozialistenführer, wurde ihr Liebhaber und ersetzte damit zugleich auch das Vorbild, das bis zur Pubertät der Vater für sie gewesen war. Um das Abitur nachzuholen, brauchte Helene fünf Jahre, so sehr beschäftigte sie diese Liebesaffäre. Erst 1907, in Wien, begann sie ihr Medizinstudium.
Der Einfluss der zionistischen Bewegung auf die jüdische Jugend war um die Jahrhundertwende gering. Die meisten europäischen Juden strebten danach, sich zu assimilieren. Viele von ihnen wandten sich, wie Helene Deutsch, der sozialistischen Bewegung zu. Die sozial-revolutionären, antizaristischen Bewegungen breiteten sich von Russland nach Polen aus und begeisterten auch dort große Teile der Jugend. Helene Deutsch wurde anscheinend vor allem von der Bereitschaft zu heroischer Selbstaufopferung angezogen. Später, als Psychoanalytikerin, beschäftigte sie sich ausgiebig mit der Neigung zu masochistischer Selbstaufgabe, die von ihr als typisch »weiblich« angesehen wurde.
Allerdings wird man sich fragen müssen: Sind Deutschs psychoanalytische Forschungen und Kenntnisse von dem Erleben in ihrer Kindheit und Jugend beeinflusst, oder sind ihre Memoiren, ihre Erinnerungen von ihren psychoanalytischen Erfahrungs- und Denkweisen geprägt? Denn bekanntlich prägt die Vergangenheit nicht nur unser gegenwärtiges Denken. Nicht minder wird die Vergangenheit – die Art, wie wir uns sehen und deuten – vom jeweils gegenwärtigen Denken beeinflusst.
An einigen Stellen von Deutschs Memoiren wird greifbar, dass die Inhalte der Erinnerungen nicht nur vom Alter, sondern auch von den jeweils herrschenden Interessen der Autobiographin abhängig sind. Über die »blasse Gräfin«, Frau N., die die Mutter eines unehelichen Kindes ist, schreibt Helene Deutsch beispielsweise, dass sie wohl eine jener heute fast legendären Figuren war, eine Tochter, die aus dem Elternhaus verstoßen wurde, weil sie ein uneheliches Kind gebar. Sie hätte ein faszinierendes Forschungsobjekt für eine Untersuchung über ledige Mütter in den oberen Gesellschaftsschichten jener Ära abgegeben. [49] Tatsächlich hatte Deutsch das Schicksal von Frau N. im zweiten Band ihrer Psychologie der Frau bereits ausführlich geschildert. Sie kenne ihre Geschichte von ihr selbst und habe feststellen können, dass sie der Wahrheit entsprach. [50] In dieser ersten Version steht aber im Mittelpunkt nicht das Problem der ledigen Mutter mit ihrem unehelichen Kind, die von der Gesellschaft verstoßen wird, sondern dasjenige einer Frau, die sich heroisch für die berufliche Zukunft ihres Geliebten opfert.
Hier konzentriert sich Helene Deutsch auf die Darstellung einer sich masochistisch für die Zukunft ihres Geliebten aufopfernden Frau. Diese lässt sich, obwohl sie bereits im vierten Monat schwanger ist, von der Mutter des Geliebten, mit dem sie schon seit einigen Jahren zusammenlebt, überzeugen, dass es besser für ihren Geliebten ist, wenn er sie nicht heiratet. Beeindruckt von den Worten der Mutter, von eigenen unbewussten Schuldgefühlen bedrückt, aber vor allem von dem Bedürfnis nach heroischer Selbstaufopferung getrieben, trennt sie sich von sich aus von dem Freund, dem Vater ihres Kindes, indem sie ihm vorspielt, nicht zu wissen, ob sie ihn liebe, ja, nicht einmal zu wissen, ob das Kind von ihm stamme. Entsprechend masochistisch klammert sie sich später an das Schicksal der »Ausgestoßenen«, das ihr nicht nur von der Gesellschaft nahegelegt wird, sondern das sie auch selber zu suchen scheint.
Wieso hat Helene Deutsch, als sie ihre Memoiren schrieb, vergessen, was ihr seinerzeit mitgeteilt wurde und was sie selber in ihrem früheren Buch beschrieben hatte? Gewiss, Dichtung und Wahrheit lassen sich so genau nie auseinanderhalten. Was hier aber stört, ist doch das Vergessen einer im eigenen Werk bereits ausgeführten anderen Version, die mit der ersten nur schwer zu vereinbaren ist. Freilich, mit zunehmendem Alter spielt uns das Gedächtnis manchen Streich, wir sind alle diesen Zeichen des Alterns ausgesetzt. Dennoch ist das, was wir vergessen, nicht einfach einer absichtslosen Auswahl unterworfen. Mir scheint deshalb die folgende Deutung des Vergessens und der Veränderung ihrer Erinnerung naheliegend zu sein.
Helene Deutsch lebte über Jahre in einem illegalen Verhältnis mit dem verheirateten Sozialistenführer Hermann Liebermann. Auch hier war es die
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