Eine magische Begegnung
einziges Mal in seinem Leben gefühlt, und zwar an dem Tag, als Karen gestorben war. “Was zum Teufel hat sie nur getan?” Das war der erste Gedanke gewesen, der ihm durch den Kopf geschossen war. Der zweite: “Mein Gott, das kann einfach nicht wahr sein.”
Dennoch hatte er sich nie einem Menschen näher gefühlt als jetzt – auf dieser Lichtung, wo die Sonne schien, ein Vogel zwitscherte, Lilis Kopf an seiner Brust lag und ihr süßer, frühlingshafter Duft langsam den Geruch nach Verwesung zu vertreiben begann.
Und es war genauso Furcht einfößend wie damals, als er Erika zum ersten Mal im Arm gehalten hatte.
Auf dem Heimweg hielt sich Lili dicht hinter Tanner. Nichts war mehr so wie heute Mittag, als sie losgezogen waren. Alles war anders. Sie war nicht mehr der gleiche Mensch, der sie noch vor zwei Stunden gewesen war.
Lili konnte es nicht fassen. Es gab wirklich einen Toten. Es war kein Ding. Da draußen im Wald lag ein Mensch. Ein Mann.
Sie schloss die Augen und erschauderte.
Die Polizei hatte fünfzehn Minuten nach Spuren gesucht. Vielleicht war es auch eine halbe Stunde oder länger gewesen. Sie hatte das Zeitgefühl verloren, als immer mehr Polizisten und schließlich auch Sheriff Gresswell aufgetaucht waren. Sie hatten zwar nicht von einem Mord gesprochen, doch Lili wusste, dass es sich um Mord handelte. Und es war nun nicht mehr nur etwas, das Fluffy gesehen hatte. Sie hatte der Polizei gefühlte Millionen von Fragen beantwortet, doch als sie ansetzen wollte, von Fluffy zu erzählen, hatte Tanner ihr einen vielsagenden Blick zugeworfen.
Tu's nicht
. Das war seine unausgesprochene Botschaft gewesen – und sie hatte sie klar und deutlich verstanden. Sie wusste nicht genau, warum sie auf ihn gehört hatte. Jetzt hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen. Fluffy nicht zu erwähnen erschien ihr im Nachhinein wie eine Lüge. So als hätte sie etwas Wesentliches verschwiegen.
Irgendwann hatte Tanner es geschafft, dass die Polizei ihnen erlaubte, endlich nach Hause zu gehen.
Sie hatten die Wiese hinter sich gelassen und liefen nun den schmalen Waldweg entlang, der zu Lilis Garten führte. Hier im Schatten war es kühl. Lili schauderte vor Kälte.
Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie dabei ein Geräusch von sich gegeben hatte, doch Tanner blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Er umfasste ihre Schulter und sah sie prüfend an. “Alles in Ordnung mit dir?”
Lili dachte daran, wie er sie im Arm gehalten hatte, bevor die Polizei gekommen war. Es hatte sich angefühlt, als wären sie beide die einzigen Menschen auf der Welt. Als würden sie einander brauchen. Dies hier war ein ganz anderer Tanner. Obwohl er scheinbar um sie besorgt war, hatte er sie ein wenig zu fest an der Schulter gefasst.
Sie setzte an, ihn zu fragen, was los war, was sich geändert hatte und warum er sie so ansah, als hätte sie etwas falsch gemacht. Doch dann schoss ihr plötzlich ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. “Wo ist Einstein?” Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. “O mein Gott, ich habe sie völlig vergessen.”
“Der Katze geht es gut. Sie ist …”
Als er mitten im Satz abbrach, krampfte sich Lilis Magen sofort zusammen. “Wo ist sie?”
“Glaub mir, es ist besser, wenn du es nicht weißt.”
Übersetzung: Einstein treibt sich bei der … sie treibt sich am Tatort herum.
“Sie kommt bestimmt zurück”, sagte Tanner und streichelte beschwichtigend ihren Arm. Doch sein Blick war abwesend, als wäre er in Gedanken genau dort, wo Einstein war. Am Tatort.
“Warum haben wir der Polizei nichts von Fluffy gesagt?”, flüsterte sie.
Er sah sie scharf an. “Das wäre nur verwirrend.”
“Aber sie wissen nicht einmal, dass sie es mit einem Mord zu tun haben. Ich muss es ihnen sagen, sonst merken sie es erst bei der Autopsie.”
Er senkte den Kopf und hörte auf, sie tröstend zu streicheln. “Sie sind …” Er drückte ihren Arm. “Sie können sehr viele Dinge vor der Autopsie feststellen – allein dadurch, dass sie sich die Leiche genau ansehen. Und da ich sie nicht für dumm halte, nehme ich doch stark an, dass sie das auch tun.”
“Oh.” Lili schluckte. Tanner hatte sie für kurze Zeit auf der Wiese allein gelassen, während er den zwei Hilfssheriffs den genauen Fundort gezeigt hatte. “Oh”, sagte sie noch einmal. Mehr brachte sie nicht heraus.
“Wir sollten uns nicht zu viel einmischen, Lili.” Er redete mit ihr wie mit einem Kind.
Und sie fühlte sich auch wie ein Kind,
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