Eine magische Nacht. Roman
Nuss, und es würde schwierig werden, an ihn heranzukommen. Mittlerweile wirkte er sogar noch blasser als im ersten Moment, als sie den Raum betreten hatte.
»Shawn!« Es war seine Mutter, die anscheinend mit den Tränen kämpfte. Als er nicht reagierte, wandte sie sich an Janelle. »Gestern Abend nach der Schule war er ganz unleidlich und wirkte richtig erschöpft. Und dann heute Morgen … da ging es ihm so viel schlechter. Ich weiß nicht, was los ist, warum oder wo er Schmerzen hat. Nichts. Ich habe keine Ahnung, ob er in der Schule verletzt wurde oder sich dort etwas gefangen hat …«
»Mom!«
»Nun, wenn du nichts sagst, muss ich es tun.«
Seufzend zuckte er mit den Schultern und schien nun tatsächlich körperlich zu wanken.
Besorgt trat Janelle auf ihn zu, griff nach seinem Ellbogen und stützte ihn, als er sich zur Seite neigte. In dem Moment, als sie seine Haut berührte, überliefen sie Fieberwellen und Schmerz. Fast hätte sie die Hand zurückgerissen. Noch nie hatte sie gespürt, wie …
Warte.
Konnte das sein?
Sie holte tief Luft und glitt mit der Hand seinen Arm entlang nach unten, als wollte sie den Puls an seinem Handgelenk prüfen. Während sie das tat, erfuhr sie eine Art Bewusstseinsbeben und merkte, wie ihre eigene Wahrnehmung mit der eines Fremden verschmolz. Männlich. Jung. Höllisch verlegen. Schmerz, Hitze und Übelkeit. Und dann auch irgendeine Entzündung …
»Ein Rattenbiss.«
»Was?« Der Horror einer Mutter. »O Gott. Tollwut?«
»Nein.« Selbst ein wenig benommen von der Erfahrung, beeilte sich Janelle, ihre hastige, um nicht zu sagen unerklärbare Diagnose zu verdeutlichen. »Aber die Wunde ist entzündet.« Sie sah dem Jungen in die Augen. »Sie wird ihn nicht umbringen oder einen dauerhaften Schaden verursachen, aber sie muss unbedingt sofort behandelt werden.«
»Wie haben Sie …?«, stammelte der Junge und zuckte zusammen. Dann verließen ihn Worte und Gedanken. Er war sehr blass geworden und wirkte geistig leicht benebelt.
Janelle hielt ihn fester. »Ich habe einfach mal getippt, und du hast es bestätigt.« In demonstrativer Gelassenheit zuckte sie mit den Achseln. »Deine Symptome haben mich an einen früheren Patienten erinnert.«
»Aber wie …? Lieber Himmel, Shawn, in welchem Drecksloch hast du dich herumgetrieben? Was ist es, das ich nicht weiß? Drogen? Prostitution?«
»Wo bist du gebissen worden, Shawn?«, fragte Janelle ihn ruhig.
Er wurde rot.
Janelle legte ihm ihre freie Hand an die Stirn, als wollte sie sein Fieber prüfen. Ein weiterer Kontaktpunkt, und wieder schwächte dieselbe Verschmelzung zwar ihr Sehvermögen, verstärkte aber ihre anderen Sinne. Quälende Peinlichkeit, Grauen, Angst vor der drohenden Entdeckung … Sie verfolgte die Wellen von Hitze und Gift bis dorthin, wo sie herkamen. Und während sie sich vorübergehend dieser Verbindung entzog, lenkte Janelle ihre Aufmerksamkeit an seinem Körper nach unten, wo sie innehielt. Dann sah sie dem Jungen in die Augen. Er schien entsetzlich zu leiden, sowohl emotional als auch physisch.
»Oh-oh.« Janelle summte es leise, gerade laut genug, dass der Junge sie hören konnte. Er würde nicht daran sterben. Zumindest lagen keine physischen Gründe dafür vor. Die emotionale Seite war jedoch eine völlig andere Sache. Sie erkannte die Panik in seinem Blick.
Der Junge, der zweifellos und unmissverständlich an ihren Augen ablesen konnte, was sie vorhatte, brachte endlich die Zähne auseinander: »Könnte nicht wenigstens meine Mutter rausgehen?«
»Shawn«, protestierte diese.
»Manchmal ist es leichter, wenn man mit Fremden zu tun hat«, murmelte Janelle und sah über die Schulter. »Denen muss man hinterher nicht in die Augen sehen. Mir geht es genauso. Deshalb lasse ich mich auch nie von Ärzten behandeln, die meine Kollegen oder persönlichen Freunde sind.« Janelle lächelte der Frau aufmunternd zu. »Gleich da draußen finden Sie meine Krankenschwester Cindy. Könnten Sie sie bitte hereinschicken, damit sie mir zur Hand geht?«
Nachdem seine Mutter unwillig den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, drehte Janelle sich wieder zu Shawn um. »Es wird Zeit, mit der Sprache rauszurücken, Shawn. Erzähl mir jetzt alles über den Rattenbiss.«
»Sie wissen, wo ich gebissen wurde.«
»Davon kannst du ausgehen. Also, mach mir die Freude. Erkläre mir, wie dir eine Ratte vorn in die Hose schlüpfen konnte.« Dann wurde sie ernst. »Hör auf deine Ärztin. Hör gut
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