Eine Nacht in Bari
entschiedene Ablehnung. Das nicht ganz unoriginelle Argument war, dass der heilige Nikolaus Bari zu seiner Stadt auserkoren hätte. Wäre er wirklich dagegen gewesen, hätte er den Raub seiner Knochen ja einfach verhindern können oder einen Sturm entfachen,
um die Flucht der Matrosen zu vereiteln. Da keines dieser Phänomene eingetreten war, blieb als einzige Erklärung, dass der heilige Nikolaus gern in Bari bleiben wollte. Und wen diese Argumentation nicht überzeugte, der hatte eben Pech.
San Nicola, der heilige Nikolaus, blieb in Bari und wurde zum Ziel von Pilgerfahrten aus Osteuropa und vor allem aus allen Teilen Großrusslands. An manchen leuchtenden Frühlingstagen sind die orthodoxen Priester mit ihren traditionellen schwarzen Gewändern, die sich wie Riesenameisen von dem weißen Hintergrund der weißen romanischen Steine abheben, ein unvergesslicher Anblick.
In den Jahrhunderten nach der Umbettung (ich liebe diesen Euphemismus) der Gebeine von Myra nach Bari verbreitete sich der Kult um Nicola, der laut der Legende und der Verehrung ein Heiliger war, der Geschenke verteilte, in ganz Europa und kam so auch nach Neu-Amsterdam (das spätere New York), wo der Ex-Bischof von Myra, der auch Santa Klaus genannt wird, schließlich zum Weihnachtsmann wurde.
Randy war mein Gefährte bei meinen Streifzügen durch die Stadt und vor allem bei der Erforschung der vielschichtigen, wundervollen Traumwelt meiner Jugendjahre.
Noch heute kommen mir, wenn ich an entlegenen Orten der Stadt bin, die ich damals mit dem Hund zum ersten Mal betrat, diese Träume wieder in den Sinn, mit derselben unschuldigen, brutalen Intensität wie damals.
Noch heute sehe ich, wenn ich mir einen dieser Träume vergegenwärtige, die fröhlich dahintrottende, rotbraune, plebejische Gestalt von Randy vor mir, mit demselben spöttischen und unwiderstehlichen Ausdruck wie damals, als er mich auswählte, indem er mir vom Pappkarton aus die Hände leckte.
»Er war sechzehn, als er starb. Das war 1990, ein paar Tage vor Weihnachten, und ich war nicht in Bari, als es passierte«, sagte ich, während ich vor mich hinsah, auf irgendeine Stelle im leeren Raum, in dem unsere Erinnerungen verborgen sind.
»Er hat lange gelebt für einen Hund«, sagte Giampiero.
»Das ist wahr, er hat lange gelebt. Und er war ein glücklicher Hund. Manchmal sah ich ihn in der Sonne liegen, hingefläzt und mit halbgeschlossenen Augen und einem Ausdruck vollkommener Glückseligkeit, und dann musste ich an dieses Gedicht von Walt Whitman denken.«
»Das aus Grashalme ?«, fragte Paolo.
»Ja. Das mochte ich immer sehr gern. Ich kann es sogar auswendig.«
»Wie ging es noch genau? Warte … Ich denke, ich könnte mit Tieren zusammenleben … und dann?«
» Sie sind so gelassen und in sich ruhend. Ich stehe da und sehe sie lange, lange an. Sie jammern und klagen nicht über ihr Schicksal und liegen nachts nicht wach und weinen wegen ihrer Sünden. Sie machen mich nicht
krank mit ihren Verpflichtungen Gott gegenüber. Keines ist unzufrieden, keines von der Gier nach Besitz besessen. Dann muss es noch eine Strophe geben, an die ich mich nicht genau erinnere, die mir aber am allerbesten gefällt: Keines ist ehrwürdig oder unglücklich auf der ganzen Erde .«
» Keines ist ehrwürdig oder unglücklich auf der ganzen Erde «, wiederholte Paolo nachdenklich, indem er die Worte langsam aussprach und in der Luft zwischen uns schweben ließ. Ich wartete, bis sie sich aufgelöst hatten, und erzählte dann weiter von Randy.
»Fünfzehn Jahre lang hatte ich am Heiligen Abend den Hund ausgeführt, bevor ich zum Weihnachtsessen bei der Familie meines Onkels ging. An jenem Abend 1990 war ich jedoch allein und dachte, der Moment des Abschieds sei gekommen. Ich nahm die Leine, die ich immer bei mir hatte, auch wenn der Hund, vor allem abends, frei herumlief, und wanderte durch die Straßen der Umgebung. Wie ihr wisst, hatte Randy immer etwas zu lange Krallen, so dass man ein unverwechselbares Klicken hörte, wenn er über den Asphalt lief. In jener Nacht, in der ich allein auf den menschenleeren Straßen unterwegs war und versuchte, nicht zu weinen, hörte ich auf einmal – und ich schwöre euch, dass ich es wirklich hörte – dieses Klicken hinter mir. Ich drehte mich kein einziges Mal um, denn ich wollte nicht, dass er verschwand und dass unser letzter Spaziergang so endete. Ich drehte mich nicht einmal um, als ich an der Haustür ankam und sie ein wenig länger offen hielt,
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