Eine Nacht in Bari
liegt. Der Eindruck, den die Mauer vermittelt, ist der eines libyschen Forts, das aus mysteriösen Gründen von der Wüste in unsere
Gefilde verlegt wurde – direkt an die liebliche Adriaküste. Es könnte allerdings auch die Kulisse eines Kolossalfilms aus Hollywood sein, die vor Jahren dort stehen gelassen wurde – für einen Film, der dann nie gedreht wurde.
Paolo betrachtete dieses Bauwerk lange, so, als habe er es über die Jahre vergessen und wolle es sich nun gut einprägen, weil er in Zukunft keine Gelegenheit mehr haben würde, es zu sehen.
»Diese Orte hätte ich gern auch bei Tag gesehen, bei Sonnenschein. Mich hat der Kontrast zwischen dem Gelb der Mauern und dem sagenhaften Blau, das es hier manchmal gibt, immer begeistert.«
»Dir fehlt die Farbe des Himmels, stimmt’s?«, sagte Giampiero voller Stolz, als habe er selbst dieses Blau erfunden.
»Ob es mir fehlt? Das habe ich mich noch nie gefragt.«
Die Frage schien ihn zu beschäftigen, und er machte eine lange Pause.
»Aber wenn du es wirklich wissen willst: Ja, sie fehlt mir. Mir fehlt das Licht mancher Tage, die vom Maestrale leergefegt sind. Und mir fehlt dieses Blau.«
Er machte noch eine Pause, kürzer diesmal, als wollte er eine plötzliche Eingebung festhalten.
»Vielleicht sage ich jetzt etwas ganz Idiotisches – eine typische Emigrantendummheit -, aber ich glaube, ich habe nirgends auf der Welt ein so perfektes Blau gesehen wie dieses. Ich würde sagen, dass es die platonische Idee von Blau ist.«
In jenem Moment hatte ich den Eindruck, in der Dunkelheit den Himmel und dieses alles beherrschende Blau mit den Augen desjenigen zu sehen, der nach einer langen Reise aus einem fernen Land zurückkommt und sich staunend in seiner Heimat umsieht. Ich sah ihn mit Paolos Augen, durch seine Erinnerungen.
»Was fehlt dir noch?«, wollte ich wissen.
»He, ist das hier eine Selbsterfahrungsgruppe oder was?«, nörgelte er, aber man konnte sehen, dass in seinem Kopf etwas angestoßen worden war und dass er Lust hatte, zu antworten. Nicht so sehr mir als sich selbst. Er überlegte eine Weile.
»Ich sage einfach, was mir in den Sinn kommt, ja? Also – mir fehlt die Farbe des Meeres, wenn der Mae – strale weht. Wenn der Wellengang stark, das Wasser aber trotzdem kristallklar ist und zugleich dunkelblau und grün und sandfarben vom Meeresgrund. Mir fehlt der Geruch dieses Meeres.«
Er kniff die Augen zusammen und machte eine kurze Pause.
»Aber wisst ihr, was mir eigentlich am meisten fehlt? Der Duft einer Focaccia. Wenn ich nur eine Sache nennen dürfte, wäre es das: der Geruch einer Focaccia. Der Geruchssinn ist wirklich der Sitz der Erinnerungen. Ich glaube, wenn ich diesen Geruch noch einmal riechen könnte – was ich bezweifle -, könnte ich mich an vieles erinnern, was tief in meiner Erinnerung vergraben und ansonsten womöglich für immer verschollen wäre.«
Dann ging er ohne ein weiteres Wort los, als würde ihn plötzlich etwas beunruhigen, was er sich nicht anmerken
lassen wollte, und wir folgten ihm bis zu der Ecke, wo man den Strand von San Francesco sehen kann.
San Francesco und Il Trampolino sind die ältesten Badeanstalten der Stadt Bari. Vom Zentrum aus ist man in einer halben Stunde dort, wenn kein Verkehr ist, und als Erwachsener hatte ich hauptsächlich deshalb das Gefühl, privilegiert aufgewachsen zu sein, weil ich als Kind an den Strand gehen und baden konnte, ohne die Stadt verlassen zu müssen.
Seit ich klein war, ging ich lieber ins Trampolino, weil es dort, neben anderen Vorzügen gegenüber der Konkurrenz, hervorragende Reisbällchen gab und auch einen wunderschönen Swimmingpool, dessen Sprungbrett der Anlage ihren Namen gab.
Der Pool lag etwas höher, war über drei Meter tief und hatte an einer Seite ein Bullauge, durch das man die Tauchversuche der Schwimmer beobachten konnte. Ich weiß nicht, warum ich von diesem Bullauge so magisch angezogen war, aber Tatsache ist, dass ich stundenlang davor stand, fasziniert von der Möglichkeit, aus sicherem Abstand (ich konnte noch nicht schwimmen und hatte panische Angst davor, »nicht mehr stehen zu können«) das tiefe Wasser, die sich stumm durch Bläschenwolken bewegenden Körper und die vielen hellblauen Schattierungen zu betrachten, die die Kulisse und den Rahmen dieses Schauspiels bildeten.
Das Bullauge des Trampolino gehört zu meinen intensivsten Kindheitserinnerungen.
Es war ein schwerer Schlag für mich, als man das Schwimmbad viele Jahre später
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