Eine Nacht in Bari
eines beunruhigenden Traumes
aussehen; wo andere Regeln zu gelten scheinen als die der äußeren Welt.
Auf jenem unbekannten Gebiet hatte im Sommer 1991 die spektakulärste Landung von Bootflüchtlingen unserer Zeit stattgefunden. Zumindest die spektakulärste unserer westlichen Welt. Das Motorschiff Vlora, ein unbeschreibliches Wrack, das sich gegen alle Regeln der Flüssigkeitslehre auf dem Wasser bewegte, lud in Durazzo, schipperte über die sonnige Adria und setzte am Hafen von Bari ein Meer von Menschen ab, und zwar fünfzehntausend Albaner (ja, Sie haben richtig gelesen: fünfzehntausend, auf einem einzigen Schiff), die vor einem in sich zusammenbrechenden System flohen.
Wenn wir heute diese Bilder sehen, die von den Satelliten der CNN und anderen Sendern um die Welt geschickt wurden, und daran denken, dass sich diese Szenen biblischer Völkerwanderungen wenige Meter vor unserer Haustür abspielten, während wir mit unseren eigenen Dingen beschäftigt waren (und es immer noch sind), verspüren wir ein Gefühl der Entfremdung. Während die Geschichte hier durchzog, waren wir nicht wirklich hier. Aber auch nicht woanders.
Ein paar Monate später – damit das Jahr 1991 tragischerweise für immer unvergesslich bliebe – legte jemand, vielleicht in fremdem Auftrag (die Ermittlungen haben keine nennenswerten Ergebnisse erbracht), im Zuschauerraum des Teatro Petruzzelli Feuer und schaffte es, innerhalb weniger Stunden eines der schönsten Theaterhäuser der Welt in Schutt und Asche zu legen.
Wir kamen am Orazio Flacco vorbei, unserem Gymnasium,
das 1933 erbaut wurde und aussieht wie die Schule von Hogwarts. Wir fuhren weiter, den Hafen zu unserer Rechten und die Kaserne zu unserer Linken, bis wir zum Viale di Maratona kamen, der zum alten Stadion führt, der Arena della Vittoria, wo heute keine Fußballspiele mehr stattfinden. Seit 1990 gibt es ein neues Stadion, das aussieht wie eine riesige fliegende Untertasse, die mitten auf einem Feld gelandet ist und das von Renzo Piano anlässlich der Fußballweltmeisterschaft entworfen wurde.
Die Gegend um die Arena della Vittoria besitzt nachts eine gespenstische Schönheit. Es gibt dort verlassene Fabrikgelände, verfallene Hallen, in denen Geister wohnen, menschenleere Straßen, Schornsteine, die plötzlich in der Dunkelheit emporragen. Wenn man durch diese Straßen geht, erwartet man, jeden Moment einer Romanfigur von Philipp Dick zu begegnen oder von einem Raum-Zeit-Loch verschluckt zu werden.
Ein schöner Kontrast entsteht dadurch, dass in den Räumlichkeiten des früheren Stadions (die zu den unterschiedlichsten Zwecken genutzt werden) ausgerechnet in dieser Gegend und inmitten dieses unheimlichen Szenariums eine Marionettenschule namens La Casa di Pulcinella und eine der heutzutage rar gewordenen Schulen für junge Marionettenspieler sowie ein Spielzeugmuseum untergebracht sind.
Wir fuhren die Halbinsel von San Cataldo entlang, von der aus früher Piraten Lösegeld für entführte Schiffe und Passagiere forderten. Auf dieser Halbinsel steht auch der gleichnamige Leuchtturm, dessen Schein vor vielen
Jahren noch von der ganzen Stadt aus erkennbar war. Ich fand es wunderschön, wenn ich an manchen Frühlingsabenden auf die Terrasse ging und mich von seinem Lichtkegel und dessen hypnotischem Rhythmus gefangennehmen ließ.
Vor ein paar Jahren beschloss irgendjemand, dass das helle Licht eine optisch unzumutbare Emission war (die Tatsache, dass ich und viele andere diese Lichter schön fanden, ignorierten sie geflissentlich). Die Intensität der Strahler wurde daraufhin reduziert (»um sekundäre Lichtquellen in Richtung Erde zu unterbinden«), und seitdem sieht man den Strahl nur noch von einigen Stellen der Ringstraße oder vom Meer aus.
Wir kamen zum monumentalen Eingangstor der Fiera del Levante, und Giampiero parkte auf dem großen runden Vorplatz, auf dem jetzt nur vereinzelte Autos und ein Gourmet-Mobil standen, das Hamburger, Hot Dogs und ähnliche Diätprodukte verkaufte. Weit und breit war kein Kunde in Sicht – eigentlich war überhaupt niemand da -, und der Anblick des Wagens in der Dunkelheit mit seinen zwei Kellnern in weißen Schürzen und Mützen, die trostlos und untätig am Tresen lehnten, wäre ein Motiv ganz nach Hoppers Geschmack gewesen.
Das Tor zur Fiera del Levante und die dicke ockerfarbene Einfassungsmauer mit ihrer rhythmischen Abfolge blinder Fenster ist ein unerwarteter Anblick in einer Stadt, die außerhalb des Sahara-Gürtels
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