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Eine Nacht in Bari

Eine Nacht in Bari

Titel: Eine Nacht in Bari Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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unter anderem das Dekret, dass südlich der Altstadt von Bari auf einem flachen Gelände eine »Neustadt« angelegt werden sollte. Die rechtwinklige »Neustadt« entstand in Wirklichkeit jedoch erst ein Jahr nach Murats Tod, zeitgleich mit dem Abriss eines Teils der südlichen mittelalterlichen Stadtmauer (dort, wo jetzt der Corso Umberto liegt), deren urbane Struktur hingegen arabisch ist. Das Gewirr der Gassen bildete eine Falle für die Feinde und Angreifer, die sich dort hineinwagten; es gibt die Theorie, dass der Kontrast zwischen den beiden städtebaulichen Modellen eine Metapher für die verschiedenen Seelen der Stadt darstelle.
    Der Stadtteil Libertà entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am äußersten westlichen Ausläufer der Stadt und wurde bald zu einem proletarischen Viertel. Heute wohnen dort 60 000 Menschen, wenn wir die mehr oder weniger legalen Einwanderer dazurechnen, und es ist eine sehr interessante Gegend. Einige Ecken sind jedoch immer noch nicht ganz sicher, man könnte sogar sagen, sie gelten als richtiggehend gefährlich.
    Als wir Kinder waren, war es dort fast überall gefährlich. Oder zumindest empfanden wir es so, was in gewisser Weise dasselbe ist.
    Wir wohnten auf der Seite der gutbürgerlichen Familien, der komfortablen Wohnungen, der Theater, Buchhandlungen und der eleganten Geschäfte. Jenseits der
Grenze hingegen lebte eine laute, aggressive und bedrohliche wilde Menge. Da gab es Häuser mit dunklen, übel riechenden Eingängen, Schänken, in denen wüst aussehende Männer um Bier spielten, ebenerdige Wohnungen, aus denen es nach säuerlichem Essen und Bleiche roch, Schmuggler, Spielhöllen mit Billardtischen, Flippern, Kickern und unsichtbaren Hinterzimmern, in denen gezockt wurde. Es gab Geschäfte aus grauer Vorzeit, darunter Drogerien, die alle möglichen merkwürdigen Dinge feilboten, und Spielzeugläden, die auch Süßigkeiten verkauften, die intensiv nach Plastik, Lakritze, Zucker und Karamell rochen. Aus den Wohnungen erschallten neapolitanische Lieder oder auch der unverwechselbare melodische Sound der Siebzigerjahre; die Bands, die ihn produzierten, hießen Bottega d’arte oder Alunni al sole oder Teppisti dei sogni oder auch, wie könnte ich sie vergessen, I cugini di campagna .
    Auf der anderen Seite wohnten die mit den Schläuchen als Schwimmreifen. Diese Kinder lebten in Straßen, die zu einer anderen Welt gehörten als der unseren, einer Welt, die aus konkreten Dingen bestand, aus starken Gerüchen und lauten, kehligen Stimmen. Ihre Sprache klang fremd und bedrohlich, und wir gutbürgerlichen Kinder des Stadtteils Murat – ›Muttersöhnchen‹ nannten sie uns voller Verachtung – verstanden sie kaum und sprachen sie noch viel weniger. Unsere Eltern waren sehr darauf bedacht, dass wir zu Hause nicht Dialekt sprachen, und bestraften jeden auch nur gelegentlichen oder zufälligen Gebrauch.
    Das heißt nicht, dass wir die ganze Zeit nur zu Hause
gewesen wären. Wir spielten jeden Nachmittag nach der Schule auf der Straße. Unsere Spiele gehörten nicht so sehr einer anderen Epoche an als vielmehr einer anderen Dimension, und sie trugen Namen, deren Ursprung unbekannt oder unsicher ist. Wenn ich sie heute ausspreche, meine ich, die Lakritzrollen auf der Zunge zu spüren, die wir damals kauften – drei für zehn Lire, am Kiosk an der Piazza Risorgimento, in den alten Drogerien oder in zwielichtigen Hinterzimmern. Die Spiele hießen Virruzzo, Staccio, Squincio, Campana, Scartucce, Pioggia delle figurine, Salatino . Es waren reine Jungsspiele, und sie wurden mit Holzkreiseln, Murmeln, Kronkorken, Sammelbildchen, Blasrohren und Papierpfeilen gespielt – das waren die so genannten »Scartucce«. Es ging darum, einander zu fangen, brutal aufeinanderzuspringen, einem Neuen die Hose auszuziehen und ihn dazu zu zwingen, ein Stück des Wegs in Unterhosen zurückzulegen, um sie dort wieder aufzuklauben, wo sie hingeworfen wurde. »Scartucce« waren eine Art Initiationsritus.
    Dann gab es noch die Stinkbomben, die wir in denselben Hinterzimmern kauften wie die Lakritze und die wir in die eleganten Geschäfte im Zentrum warfen, wobei wir darauf wetteten, dass dort keiner schnell genug sein würde, uns zu erwischen, während wir wie die Wahnsinnigen das Weite suchten.
    Manchmal verloren wir die Wette, und was dann folgte, war alles andere als lustig.
    Außerdem spielten wir natürlich Fußball. Dabei gab es drei verschiedene Arten von Fußbällen, die der Reihe

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